Macht es sich der Scrum Guide zu einfach?
Im Guide wird Scrum nur als Rahmenwerk beschrieben. Es soll Teams und Unternehmen helfen, Wert zu erzeugen. Allerdings wird mit keinem Wort erwähnt, was „Wert“ eigentlich ist. Stattdessen werden die Suche danach, die Definition und das Maximieren von Wert in die Hände des Product-Owners gelegt. Ist das wirklich hilfreich?
Ich glaube, dies ist ein kluger Schachzug.
Denn dadurch lässt sich Scrum in vielen unterschiedlichen Kontexten einsetzen. Mehr noch: Damit wird es erst zu einem universellen Rahmenwerk. Gleichzeitig ist das eine große Quelle von Fehlern und Mythen. Mit einigen möchte ich heute aufräumen.
Bist du bereit?
Mythos #1: Mehr Features bedeuten mehr Wert
Was ist der beste Weg, die Kundenbindung zu verbessern?
Lange Zeit sind Unternehmen nur dieser Prämisse gefolgt: Mehr Features bedeuten mehr zufriedene Kunden. Erst Ende der 1980er Jahre stellte Professor Dr. Noriaki Kano von der Tokyo University of Science das infrage. In seiner Forschung fand er heraus, dass die Kundenbindung von der emotionalen Reaktion auf das Feature abhängt.
Dabei fand er drei Klassen von Features:
- „Must-have“-Features: Diese Features erwarten Kunden. Fehlen sie, sind sie unzufrieden.
- Leistungsfeatures: Hier trifft die Prämisse zu, dass mehr Features auch zufriedenere Kunden bedeuten.
- Begeisterungsfeatures: Diese Features erwarten Kunden nicht. Existieren sie, können sie Kunden begeistern.
Somit können wir die allgemeine Aussage „Mehr Features bedeuten mehr Wert“ getrost als Mythos ansehen, da dies nur für Leistungsfeatures gilt.
Mythos #2: Der Preis bestimmt den Wert
Was kostet eine Flasche Wasser?
Wenn du in den Supermarkt gehst, wirst du weniger als einen Euro dafür bezahlen müssen. Und jetzt eine kuriose Geschichte:
Im Jahr 2010 fand eine Auktion statt. Diese wurde von der Plan3t Foundation organisiert. Die Stiftung gehört dem mexikanischen Unternehmer Fernando Altamirano. Bei dieser Auktion wurde eine Flasche Wasser versteigert. Der Preis für die Flasche betrug 54.137 Euro. Der Name des Wassers lautet „Acqua di Cristallo Tributo a Modigliani“, und die Glasflasche war mit 24-karätigem Gold bedeckt. Als Vorbild für die Flasche diente ein Kunstwerk des verstorbenen italienischen Künstlers Amedeo Clemente Modigliani.
Wie kann Wasser so unterschiedliche Preise haben?
Wenn wir ehrlich sind, dann ist Wasser aus dem Hahn, Wasser aus dem Supermarkt und das Wasser in einer Flasche „Acqua di Cristallo Tributo a Modigliani“ letztlich dasselbe: einfach nur Wasser. Der Wert eines Produkts ist nicht nur das, was der Kunde tatsächlich erhält, wie Wasser oder Software. Er besteht auch darin, was der Kunde bereit ist, dafür zu bezahlen. Also welchen Wert er dem Produkt beimisst. Somit bestimmt der Preis nicht immer den Wert.
Sondern der Wert kann auch den Preis bestimmen.
Mythos #3: Wert bleibt konstant
Betrachten wir die Erfolgsgeschichte von Coca-Cola.
Die erste Flasche Cola wurde am 8. Mai 1886 in einer Apotheke namens Jacob’s Pharmacy in Atlanta, im US-Bundesstaat Georgia, verkauft. Der anfängliche Wert lag im einzigartigen Geschmack. Über die Jahre entwickelte sich Coca-Cola zu einer Marke, die Vertrauen und Freude vermittelte. Gleichzeitig etablierten sich viele Konkurrenten wie Pepsi und Dr. Pepper.
Wie hat es Coca-Cola geschafft, seinen Marktanteil gegenüber der Konkurrenz aufrechtzuerhalten?
In den Jahren 2018 bis 2022 lag er beispielsweise sehr konstant bei um die 45 %. Coca-Cola passt sich der Nachfrage an. Dem wachsenden Gesundheitsbewusstsein der Verbraucher begegnet es mit Diät- und zuckerfreien Varianten. Coca-Cola reagiert also kontinuierlich auf Marktveränderungen, damit der Wert erhalten bleibt. Würde es das nicht tun, würde der Wert sehr wahrscheinlich sinken, und irgendwann wäre Coca-Cola vom Markt verschwunden.
Dass sich der Wert nicht verändert, ist also ein Mythos.
Halten wir fest:
Wert wird nicht zwingend durch die Anzahl der Features bestimmt. Wert wird nicht ausschließlich durch den Preis bestimmt. Und der Wert verändert sich über den Lebenszyklus eines Produkts. Diese Erkenntnisse zeigen, warum es in Scrum die Verantwortung des Product-Owners gibt. Jemand, der sich über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts mit dessen Wert beschäftigt und zu jeder Zeit versucht, diesen zu maximieren. Jetzt kennen wir einige Tatsachen über Wert. Wir verstehen auch die Notwendigkeit des Product-Owners in der Produktentwicklung.
Aber eine Frage bleibt noch:
Wie lässt sich Wert definieren?
Hier meine Definition.
Sie besteht aus drei Elementen:
- Problem: Eine Einschränkung, die Unwohlsein oder Schmerzen verursacht, wenn sie nicht aufgelöst wird.
- Ziel: Ein Wunsch oder Endzustand, der es ermöglicht, sich über das Problem hinaus zu entwickeln.
- Lösung: Ein Prozess oder Weg, der die Kluft zwischen Problem und Ziel überbrückt.
Und Wert entsteht dann, wenn wir Menschen helfen, ein Problem zu erkennen, ihre Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu lenken, und ihnen zeigen können, wie sie eine bessere Zukunft für sich gestalten können.
Zugegeben, diese Definition ist jetzt sehr allgemein. Allerdings – wenn du mir zustimmst, dass es sich bei den drei Mythen wirklich um Fehlvorstellungen handelt, – wirst du mir auch zustimmen, dass es keine einfache Definition gibt.
Lass uns die Definition anhand eines Beispiels verständlicher machen.
Ein Erklärung anhand von Netflix
So stiftet Netflix Wert:
- Problem: Das Fernsehpublikum ist auf ein planmäßiges Fernsehprogramm mit Werbung beschränkt. Es gibt nur wenig Zugang zu vielfältigen Inhalten.
- Ziel: Menschen genießen ein personalisiertes, ununterbrochenes Fernseherlebnis, welches an ihre Vorlieben angepasst ist.
- Lösung: eine umfangreiche Bibliothek mit Filmen, Fernsehsendungen und Originalproduktionen, die jederzeit und ohne Werbung auf mehreren Geräten verfügbar sind.
Da meine Definition von Wert so allgemein ist, kommt es auch hier schnell zu Fehlern.
Deshalb gleich einige Warnungen:
Warnung #1: Wert liegt immer in den Augen der Betrachter
„Was ist Geschäftswert, Nutzerwert, Kundenwert oder interner Kundenwert?“
Diese Frage wird mir häufig gestellt. Und den wenigsten gefällt meine Antwort. Ich denke, das liegt daran, dass ihnen von agilen Wahrsagern weisgemacht wurde, dass Scrum und Agilität nur für Teams funktionieren und für die Organisation etwas anderes nötig ist.
Ich sehe das pragmatischer:
Wert liegt im Auge des Betrachters.
Deshalb müssen wir die Betrachter besser verstehen. Hierzu nutze ich das Logik-Modell der W. K. Kellogg Foundation.
Es besteht aus fünf Unterscheidungen, welche wir in eine logische Reihenfolge bringen können:
- Ressourcen und Inputs: die Dinge, die das Unternehmen investiert.
- Aktivitäten: Hierbei handelt es sich um Dinge, die Menschen in der Organisation tun.
- Outputs: Das sind die Dinge, welche die Organisation produziert.
- Outcomes: Das ist das erwünschte Ergebnis, welches Nutzer oder Anwender des Produkts erfahren, wenn ihnen der Output zur Verfügung steht.
- Impacts: Ein Impact drückt aus, welche Auswirkungen das Ergebnis für Nutzer und Kunden auf den Zustand unseres Unternehmens hat.
Zurück zur Frage, was Geschäftswert, Nutzerwert, Kundenwert oder internen Kundenwert unterscheidet.
Das Logik-Modell hilft uns, bestimmte Personengruppen zu unterscheiden, die an der Erzeugung von Wert beteiligt sind.
- An Ressourcen, Aktivitäten und Outputs sind die Mitarbeiter im Unternehmen beteiligt.
- Ergebnisse werden nur durch die Nutzer bestimmt.
- Und Impacts werden durch Kunden bestimmt und haben Auswirkungen.
Und die Wertdefinition lässt sich jetzt auch gut auf die Mitarbeiter im Unternehmen anwenden. Es entsteht auch Wert, wenn den Mitarbeitern im Unternehmen ein Weg gezeigt wird, wie sie ihr Problem überwinden und ihren Wunschzustand erreichen.
Was uns zur nächsten Warnung bringt:
Warnung #2: Wert ist eine Annahme
Unternehmen sollten sich niemals nur auf den Wert für ihre Mitarbeiter konzentrieren.
Sonst besteht die Gefahr, dass sie nicht lange genug am Markt bleiben. Dies könnte dazu führen, dass sie nicht erfahren, was für ihre Kunden wertvoll ist. Denn der Erfolg des Unternehmens wird durch die Ergebnisse der Kunden bestimmt. Also wie gut die Kunden die Kluft zwischen Problem und Ziel überwinden.
Amazon hat dies schön in seinen Unternehmensrichtlinien auf den Punkt gebracht:
„Customer Obsession – 100 Prozent kundenorientiert: Leader fangen bei den Kund:innen an und arbeiten von dort aus rückwärts. Sie arbeiten stetig daran, das Vertrauen unserer Kund:innen zu gewinnen und zu bewahren. […]“
Lass uns Amazons Einsicht am Logik-Modell nachvollziehen:
Lesen wir das Modell von links nach rechts, dann wiegt es uns in falscher Sicherheit. Dass wir die richtigen Outputs vorhersagen, die wünschenswerte Ergebnisse für unsere Nutzer garantieren, ist sehr gewagt. Stattdessen sollten wir beim Ergebnis der Nutzer beginnen und dann rückwärts denken und uns fragen:
- Welche Ziele und Probleme haben Menschen? Also: Was ist für sie wertvoll?
- Welche Outputs oder Lösungen können wir erstellen, damit die Nutzer ihr Ergebnis erreichen?
- Welche Aktivitäten sind dazu notwendig?
- Welche Ressourcen oder Inputs sind für die Durchführung dieser Aktivitäten nötig?
So schreibt es auch Amazon seinen Mitarbeitern vor. Denn Amazon hat verstanden, dass Wert immer nur eine Annahme ist.
Dass Menschen bestimmte Probleme haben, dass Menschen ein Ziel erreichen wollen und dass wir ihnen einen Weg zeigen können. Dies sind alles nur Annahmen, solange wir es nicht geschafft haben.
Mehr noch: Probleme und Ziele lassen sich nur in den seltensten Fällen genau beschreiben und sie ändern sich über die Zeit.
Wie gehen wir damit um, dass Wert nur eine Annahme ist?
Wir sollten Wert messbar machen. So erkennen wir, in welchem Maß er erzeugt wird. Deshalb meine letzte Warnung an dich:
Warnung #3: Wert muss messbar sein
Dass Wert messbar sein muss, beschreibt auch schon der Scrum Guide.
Die Verantwortung des Product-Owners umfasst die Maximierung des Werts. Aber Maximierung ist nur möglich, wenn der Wert messbar ist, oder?
Zum Messen von Wert gibt es unterschiedliche Ansätze. Im „Professional Scrum Product Owner – Advanced“-Training nutzen wir hierfür das „Evidence-Based Management“.
Im Rahmenwerk gibt es zwei Bereiche, die Wert beschreiben:
- Aktueller Wert: Beschreibt den Wert, den das Produkt im Moment realisiert.
- Unrealisierter Wert: Beschreibt das Potenzial, welchen Wert das Produkt noch einfangen könnte.
Aus der Differenz von unrealisiertem Wert und aktuellem Wert lässt sich ermitteln, wie gut die Probleme der Nutzer bereits gelöst werden können und wie nah sie ihrem Ziel sind.
Am Beispiel von Netflix wären geeignete Metriken, um den Wert zu messen:
- „Average Viewing Hours per User“: die durchschnittliche Anzahl der wöchentlich gestreamten Stunden pro Nutzer
- Wachstumsrate: der monatliche Zuwachs an bezahlten Abonnenten weltweit
- Abwanderungsrate: der monatliche Anteil der Abonnenten, die ihr Abonnement kündigen
Die Definition von Wert bildet die Grundlage für jeden Product-Owner. Als nächstes geht es darum, diesen Wert zu benennen. Du musst Ziele setzen, welche diesen Wert einfangen und deine Stakeholder davon überzeugen, in diese zu investieren.
Wenn du bereit bist, diese Schritte zu gehen, denn empfehle ich dir das „Professional Scrum Product Owner – Advanced“-Training. Dort widmen Peter Götz und ich uns zwei volle Tage den Themen Wertmaximierung, Metriken und Ziele sowie Stakeholder-Management.