„Nicht die Finanzen. Nicht die Strategie. Nicht die Technik. Es bleibt die Teamarbeit, die den größten Wettbewerbsvorsprung verschafft, sowohl aufgrund ihrer Schlagkraft als auch aufgrund ihrer Seltenheit.“
So lauten die ersten Zeilen des bekannten Buchs „Die 5 Dysfunktionen eines Teams“.
Wenn ich über diese Zeilen nachdenke, muss ich wohl Patrick Lencioni zustimmen. Nur die Hälfte der Scrum Teams, in denen ich gearbeitet habe, waren wirkliche Teams. Die andere Hälfte würde ich als Arbeitsgruppen bezeichnen.
Denn wenn ich von Teams spreche, dann meine ich eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam an der Erreichung eines gemeinsamen Ziels arbeitet. Dabei bringen die Mitglieder ihre individuellen Fähigkeiten ein, um durch Zusammenarbeit ein besseres Ergebnis zu erzielen, als es jeder Einzelne allein könnte.
Ein Team zeichnet sich durch gemeinsame Verantwortung, Kommunikation und Vertrauen aus.
Scrum ermöglicht es Unternehmen, diesen von Patrick angesprochenen Wettbewerbsvorteil zu nutzen.
Fälschlicherweise wird Scrum häufig nur als Prozess gesehen. Dabei ist es so viel mehr. Letztendlich ist Scrum ein Teamsport. Somit lauten die Aufgabe und das Wertversprechen eines Scrum Masters:
Unternehmen zu helfen, durch die Bildung echter Teams diesen Wettbewerbsvorteil zu nutzen.
Dafür liefert das Scrum-Rahmenwerk viele Hilfsmittel:
Zum Beispiel gemeinsame Ziele und Events, um den Austausch zu forcieren. Informations-Radiatoren, wie Backlogs, um die Zusammenarbeit anzuregen. Gemeinsame Definitionen, wie die „Definition of Done“, um ein gemeinsames Verständnis zu fördern.
Allerdings wird ein Werkzeug häufig übersehen:
Die Scrum-Werte. Ein gemeinsames Werteverständnis hilft einer Gruppe von Menschen, zu einem Team zusammenzuwachsen. Es ermöglicht den Mitgliedern, gemeinsame Verantwortung zu übernehmen, ehrlich zu kommunizieren und somit Vertrauen untereinander aufzubauen.
Die Scrum-Werte helfen Scrum-Teams zu erkennen, was wichtig ist, um in der Produktentwicklung als Team erfolgreich zu sein.
Wie kannst du diese Erkenntnis fördern?
Eine Möglichkeit ist es, eine Sprint-Retrospektive zu den Werten durchzuführen.
Um das Spiel „Er hat aber gesagt ... Sie hat aber auch ...“ zu vermeiden, empfehle ich dir das folgende Retrospektiven-Format. Es hat mir in der Vergangenheit mehrmals geholfen, das Team für die Scrum-Werte zu sensibilisieren.
Beginnen wir mit dem Einstieg:
Schritt 1: Frage zum Einstieg
Du kannst die Mitglieder auf das Kommende vorbereiten, indem du mit einer dieser Fragen die Retrospektive beginnst:
- Erzähle von einer Situation in diesem Team, die die Zusammenarbeit besonders gemacht hat.
- Erzähle von einer Situation in diesem Team, die den Zusammenhalt dieses Teams auszeichnet.
Bitte die Mitglieder des Teams, in Paaren zusammenzugehen und eine der Fragen zu beantworten. Gib ihnen dafür etwa 6 bis 8 Minuten Zeit. Vergiss nicht, dich auch in eines der Paare zu begeben, du bist als Scrum Master schließlich auch Teil des Teams.
Mit diesem Austausch startet die Sprint-Retrospektive gleich mit etwas Wahrem und Positivem. Dies bereitet den Boden für die nächsten Schritte und hilft den Mitgliedern des Teams, sich einfach auf die Retrospektive einzulassen.
Schritt 2: Umfrage beantworten
Ohne Vorwarnung über gemeinsame Werte zu sprechen, fühlt sich oftmals ungewohnt an.
Da aus Ungewohntem schnell Unangenehmes werden kann, solltest du das verhindern. Ich nutze hierfür eine Umfrage. Anstatt die Werte direkt anzusprechen, lade ich die Mitglieder ein, das Team zu bewerten.
Dazu soll jeder für sich folgende Aussagen bewerten. Die Bewertung erfolgt auf einer Skala von eins bis fünf. Eins bedeutet wenig Zustimmung. Fünf bedeutet große Zustimmung.
Hier die Fragen im Detail:
Selbstverpflichtung:
- Wir verpflichten uns, unsere gemeinsamen Teamziele erreichen zu wollen.
- Wir unterstützen die Entscheidungen und Pläne des Teams.
- Wir sind bereit, auch einmal etwas über unsere Grenzen hinauszugehen.
- Wir verpflichten uns gegenseitig zur Einhaltung von Verpflichtungen und Qualitätsstandards.
Fokus:
- Wir konzentrieren uns auf ein oder zwei kleine Dinge und erledigen diese, bevor wir zur nächsten Sache übergehen.
- Wir fokussieren uns auf kontinuierliche Wertschöpfung und kontinuierliche Verbesserungen.
- Wir treffen kundenwertorientierte und konsensbasierte Entscheidungen.
- Wir messen den Erfolg anhand der Erreichung unserer gemeinsamen Ziele und Ergebnisse.
Offenheit:
- Wir helfen proaktiv anderen im Team.
- Wir sind in der Lage, uns an unerwartete Veränderungen anzupassen.
- Wir teilen unsere Ideen, Perspektiven und unser Wissen.
- Wir gehen mit Misserfolgen oder Rückschlägen um, indem wir über das Gelernte nachdenken und einen anderen Ansatz versuchen.
Mut:
- Wir bringen Probleme und Bedenken sofort und direkt zur Sprache.
- Wir geben Fehler schnell zu und suchen nach Lösungen.
- Wir bitten proaktiv um Hilfe.
- Wir stellen Annahmen infrage, sowohl unsere eigenen als auch die der gesamten Organisation.
Respekt:
- Wir sind in der Lage und bereit, Konflikte respektvoll und produktiv zu lösen.
- Wir geben uns gegenseitig regelmäßig konstruktives Feedback, um uns individuell und im Team weiterzuentwickeln.
- Wir sind offen dafür, andere Ideen und Perspektiven anzuhören und zu berücksichtigen.
- Wir arbeiten daran, die funktionsübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern und das Geschäfts-, Technologie- und Prozesswissen innerhalb des Teams zu erweitern.
Nachdem jedes Mitglied im Team die Umfrage ausgefüllt hat, besteht der nächste Schritt in der Auswertung:
Schritt 3: Umfrage auswerten
Aus meiner Erfahrung ist es zeitraubend, alle Punkte einzeln auszuwerten, zu vergleichen und zu diskutieren.
Ich nutze deshalb dieses Vorgehen:
Schritt 1: Bitte jedes Mitglied im Team, die Bewertung pro Scrum-Wert zu summieren. So erhält jeder Scrum-Wert eine Zahl zwischen 4 und 20.
Schritt 2: Addiere nun für jeden Scrum-Wert die Zahlen aller Teammitglieder. Dies ergibt die Bewertung des Scrum-Werts für das ganze Team.
Schritt 3: Jetzt hat jeder Scrum-Wert genau eine Zahl. Damit kannst du die Scrum-Werte der Reihenfolge nach anordnen.
Das Resultat sieht dann für ein dreiköpfiges Team so aus:
- Selbstverpflichtung: 15 (= 4 + 5 + 6)
- Fokus: 20 (= 6 + 7 + 7)
- Offenheit: 45 (= 15 + 15 + 15)
- Mut: 22 (= 7 + 7 + 8)
- Respekt: 33 (= 11 + 11 + 11)
Mit dieser geordneten Liste der Scrum-Werte kann dein Team Maßnahmen zur Verbesserung erzeugen. Im Beispiel dann:
- Selbstverpflichtung
- Fokus
- Mut
- Respekt
- Offenheit
Dies ist der nächste Schritt.
Schritt 4: Einsichten und Maßnahmen generieren
Der vierte Schritt besteht nur darin, Maßnahmen zur Verbesserung zu überlegen.
Drei Anmerkungen vorab:
- Konzentriere dich nur auf den Scrum-Wert mit den wenigsten Punkten. Das Ziel jeder Retrospektive sollte es sein, eine Verbesserungsmaßnahme zu erarbeiten. Die frühzeitige Konzentration auf deinen Scrum-Wert leitet diese bereits ein.
- Die Umfrage ermöglicht Objektivität, gibt jedem die gleiche Stimme und spart wertvolle Zeit. Verspiele diesen Vorsprung nicht, indem du jeden Wert und die Bewertungen, die dazu geführt haben, im Plenum diskutierst.
- Probleme nimmt jeder unterschiedlich wahr und zu viel Konzentration auf Probleme ist nicht immer hilfreich. Was jedoch immer hilft, ist der Blick nach vorne und Lösungen, wie es in Zukunft besser sein kann. Darauf solltest du als Scrum Master das Augenmerk des Teams richten.
Behalte diese Anmerkungen im Hinterkopf. Und lade die Mitglieder deines Teams nun ein, Verbesserungen aufzuschreiben.
Bringe dich hier unbedingt mit deiner Erfahrung als Scrum Master und dem Wissen um das Scrum-Rahmenwerk ein. Im Beispiel von fehlendem Commitment könnte eine Verbesserung ein gemeinsames Ziel sein. Das könnte ein Sprint-Ziel, eine Team-Mission oder ein Produkt-Ziel sein. Nachdem jeder im Team eine Verbesserung formuliert hat, müssen die Maßnahmen bewertet werden:
Schritt 5: Maßnahmen priorisieren
Hierfür kannst du die Aufwand-Nutzen-Matrix verwenden:
Erkläre zunächst die Matrix. Bitte dann jedes Mitglied deines Teams der Reihe nach, seine Maßnahme zur Verbesserung vorzustellen. Erörtere gemeinsam mit den anderen Teammitgliedern den Nutzen und Aufwand der vorgeschlagenen Maßnahmen.
Diesen Schritt würde ich zeitlich begrenzen. Je nach Größe des Teams sollte jede Maßnahme nicht länger als 4 Minuten diskutiert werden, bevor sie final platziert ist.
Zum Schluss geht es darum, eine Verbesserungsmaßnahme zu wählen.
Mein Tipp: Die Maßnahmen mit hohem Nutzen und geringem Aufwand könnten gute Kandidaten sein, damit das Team sie im nächsten Sprint angeht.
Ich würde es aber dem Team überlassen und deshalb ein Dot-Voting durchführen.
Schritt 6: Zuversicht prüfen
Da Dot-Voting noch keine Zustimmung bedeutet, solltest du als Letztes noch die Zuversicht prüfen. Also das Team fragen:
Wie zuversichtlich seid ihr, dass ihr die Maßnahme im nächsten Sprint als Team auch umsetzt?
Die Zuversicht würde ich mit einem Roman-Voting prüfen. Solltest du dich noch am Anfang deiner Karriere als Scrum Master befinden, empfehle ich dir eine Schulung zu Facilitation-Techniken. Wenn dir Namen wie Dot- und Roman-Voting noch nichts sagen, ist das besonders wichtig. Gute Facilitation ist eine Grundfertigkeit jedes erfolgreichen Scrum Masters.
Die frühzeitige Investition in eine Schulung wird sich deine ganze Karriere lang bezahlt machen.
Zum Abschluss:
Dir ist sicherlich nicht verborgen geblieben, dass ich der Diskussion der Scrum-Werte keinen großen Raum schenke. Auch das Verhalten der einzelnen Mitglieder im Team kommt nicht direkt zur Sprache.
Leider weiß ich aus meiner langjährigen Erfahrung als Scrum Master, dass das „Werte-Thema“ häufig negativ besetzt ist. Gleichzeitig weiß ich um die Wichtigkeit bei der Bildung von Teams. Deshalb habe ich es in der Vergangenheit in den ersten Retrospektiven dazu erstmal nicht so stark in den Vordergrund gestellt. Erst wenn das Team Offenheit signalisiert, mehr darüber zu sprechen, würde ich es auch tun.
Wenn du in einer ähnlichen Situation bist wie ich, dann hoffe ich, dass dir diese Anleitung hilft. Sie soll dir den Einstieg in eine Retrospektive erleichtern.