Nach fast 10 Jahren als Scrum Master wird es Zeit, innezuhalten und zurückzuschauen.
Hier meine 5 Einsichten:
Einsicht 1: So funktioniert Produktentwicklung wirklich
Lange dachte ich, Unternehmen funktionieren so:
Aus Arbeit entsteht Umsatz.
Deshalb habe ich mich bei meiner Arbeit als Scrum Master auf die Verbesserung der Arbeit konzentriert. Meine Gedanken kreisten stets um diese Fragen:
- Wie kann ich Meetings so gestalten, dass die Arbeit am besten geplant werden kann?
- Wie kann ich ein Daily Stand-up moderieren, damit jeder zu Wort kommt, aber sich auch niemand langweilt?
- Was sind die richtigen Vorgangstypen, mit denen sich die Arbeit des Teams am besten beschreiben lässt?
- Wie sieht die passende Teamstruktur für die Teams aus?
- Wie können wir möglichst schnell neue Kollegen ins Team onboarden?
Allerdings habe ich bei der Formel „Aus Arbeit entsteht Umsatz“ eine Sache vergessen. Aus Arbeit entsteht eben nicht Umsatz. Umsatz entsteht nur dann, wenn auch Wert für den Nutzer entsteht.
Betrachte ein Restaurant: Dort kann der handwerklich beste Koch angestellt sein, hart arbeiten und viele Gerichte zubereiten. Wenn er aber den Geschmack der Gäste nicht trifft, dann werden sie nicht mehr wiederkommen. Dieser Tatsache habe ich lange zu wenig Beachtung geschenkt.
Deshalb lautet die wirkliche Formel, wie Unternehmen funktionieren:
Arbeit -> Wert für Kunden -> Umsatz
Oder in Worten: Umsatz entsteht nur dann, wenn die Arbeit des Teams zu Wert für die Kunden führt.
Die Erkenntnis: Wenn das Ziel Umsatz ist – was am Ende für jedes Unternehmen gilt –, dann ist die erste Frage, die wir uns stellen sollten: Wie lässt sich der Wert für die Kunden verbessern? Und erst dann sollten wir uns der Frage widmen: Wie können wir die Arbeit des Teams verbessern?
Ich denke, darauf will uns das Scrum Rahmenwerk mit der Verantwortung des Product Owners hinweisen und darum sollte sich die Arbeit eines Scrum Masters erst mal drehen.
Einsicht 2: Probleme lassen sich nie vollständig lösen
Unlösbare Probleme sollten mir bekannt vorkommen.
Ich habe Mathematik studiert und dort lernt man: Wenn es weniger Variablen als Gleichungen gibt, kann es unendlich viele Lösungen geben. Aber wahrscheinlich lernt man diese Tatsache bereits in der Schule. Um allerdings die Entwicklung von Produktfunktionen, das Durchführen einer Sprint-Retrospektive oder die Umstrukturierung eines Teams als unlösbares Problem zu begreifen, dafür habe ich ewig gebraucht.
Das erste Mal, dass es mir so richtig bewusst wurde, war im Jahr 2017, als ich die Liberating Structures „Ecocycle Planning“ in einem Workshop kennengelernt habe. Ecocycle Planning nutzt die Metapher des endlosen Kreislaufs des Lebens in der Natur, um Probleme zu beschreiben.
Dieser sieht grob so aus: Fällt ein Samenkorn in fruchtbaren Boden, so keimt es (Erneuerung). Die Keimlinge benötigen wiederum ausreichend Sonne, Wasser, Schutz und Mineralien, um zu wachsen (Wachstum). Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wachsen die Keimlinge zu Pflanzen heran, die Früchte tragen und neue Samen verbreiten (Reifung). Doch irgendwann sterben die alten Pflanzen ab und werden kompostiert, um Energie für neue Pflanzen zu gewinnen. Dadurch wird Platz geschaffen, damit neue Pflanzen aus den Samen im Boden wachsen können (kreative Zerstörung).
Meine Einsicht daraus: Probleme in der Produktentwicklung oder in Teams durchlaufen auch Stadien. Sie sind nie vollständig gelöst und brauchen daher unsere kontinuierliche Aufmerksamkeit.
Einsicht 3: Nutze, was bereits funktioniert
Scrum eilt häufig ein schlechter Ruf voraus.
Und daran bin ich nicht ganz unschuldig. Leider habe ich lange Zeit als Scrum Master diese Einstellung gegenüber meinen Kunden vertreten: „Kein Wunder, dass es in diesem Unternehmen nicht funktioniert. Die Menschen halten sich einfach nicht an die Scrum Regeln oder setzen Scrum nur halb um.“
Natürlich ist es so, dass Scrum nicht funktionieren kann, wenn es nur halb angewendet wird. Werden nicht alle Feedbackschleifen geschlossen, ist empirisches Arbeiten nicht möglich. Gleichzeitig sollte ich als Scrum Master auch nicht außer Acht lassen, dass das Unternehmen mit dem, was es tut, bereits sehr erfolgreich ist. Wäre es anders, würde es mich nicht beauftragen, sondern wäre bereits vor langer Zeit pleite gegangen.
Deshalb bin ich zur Einsicht gelangt, dass die Aufgabe eines Scrum Masters wohl eher lauten sollte: Hilf dem Unternehmen, Funktionierendes zu finden und zu verbessern, bevor du es mit Neuem ersetzt.
Diese Einsicht wird mir immer dann stark bewusst, wenn es eine Aktualisierung des Scrum Guides gibt.
Betrachten wir etwa die Einführung des Produkt-Ziels im Jahr 2020. Anstatt auf die Definition dieses Ziels zu bestehen, ist es wahrscheinlich hilfreicher, erst einmal zu erkunden, welche Ziele das Unternehmen im Moment verfolgt. Vielleicht existiert bereits ein Produkt-Ziel? Oder vielleicht gibt es ein Ziel, das als Grundlage für das Produkt-Ziel dienen kann? Hier würde ich nur in letzter Instanz ein neues Ziel mit dem Team erstellen.
Diese Arbeitsweise bringt mich gleich zur nächsten Einsicht:
Einsicht 4: Der erste Schritt ist immer der schwerste
Machen wir uns als Scrum Master das Leben häufig zu schwer?
Versuchen wir, bestehende Teamstrukturen, Arbeitsprozesse oder Unternehmensregeln zu eliminieren und durch Neues zu ersetzen, dann ist das ein riesiger Aufwand, den wir nur schwer allein vollbringen können. Wir brauchen Unterstützer. Finden wir nur langsam Unterstützer oder bleibt die Hilfe gar ganz aus, dann ist die Veränderung gescheitert, bevor sie eigentlich begonnen hat. Ein bekanntes Sprichwort besagt: „Der erste Schritt ist immer der schwerste.“ Nach zehn Jahren Arbeit mit Scrum und Unternehmen gehe ich sogar noch einen Schritt weiter:
„Je größer der erste Schritt, desto schwerer ist er.“
Meine Einsicht über die Jahre:
Unternehmen zu verändern ist am ehesten mit dem Bau eines Schneemanns zu vergleichen. Du musst die Kugeln ins Rollen bringen, damit sie größer werden. Das heißt: Wir sollten mit kleinen Maßnahmen beginnen. Etwas, worin wir frei handeln können, ohne um Erlaubnis oder nach zusätzlichen Ressourcen fragen zu müssen.
Denn jede Maßnahme birgt das Potenzial für eine große Veränderung, dazu muss sie aber erst mal ins Rollen kommen.
Einsicht 5: Facilitation ist die wichtigste Fähigkeit eines Scrum Masters
Was ist die wichtigste Fähigkeit eines Scrum Masters?
Spätestens seit dem bahnbrechenden Whitepaper „8 Stances of a Scrum Master“ von Barry Overeem gibt es mindestens acht Antworten. Scrum Master müssen Coaches, Mentoren, Servant Leaders, Facilitators, Teachers, Impediment Removers, Manager und Change Agents sein. Aber was davon ist die wichtigste Fähigkeit?
Nach zehn Jahren als Scrum Master glaube ich, es ist die Facilitation.
Das Wort Facilitation kommt aus dem Französischen und bedeutet „Erleichterung“. Drei Gründe, warum ich „Erleichterung“ für eine passende Beschreibung der Arbeit eines Scrum Masters halte:
- Scrum Master erleichtern es dem Unternehmen, die Risiken in der Entwicklung beherrschbar zu machen. Im Kern ist Scrum ein Werkzeug zur Risikokontrolle. Das ist die Idee hinter Sprints und regelmäßiger Auslieferung. Durch die Einführung von Scrum wird dem Unternehmen die Kontrolle des finanziellen Risikos leichter gemacht. Es muss nicht mehr auf Pläne und Zusagen vertrauen, sondern erhält spätestens nach 30 Tagen eine Rückmeldung seiner Kunden zum Fortschritt im Projekt.
- Scrum Master erleichtern Veränderungen im Unternehmen. Die Facilitation von Workshops und Meetings kann Veränderungen anstoßen und unterstützen, ohne sie zu verordnen. Workshops schaffen Freiraum für kreative Ideen und Zusammenarbeit. Ein Facilitator führt die Teilnehmer dabei durch einen gemeinschaftlichen Prozess, der die gemeinsame Problemlösung fördert, um ein kollektives Engagement für Verbesserungen zu erzeugen.
- Scrum Master erleichtern die Selbstorganisation des Teams. Anstatt dass jeder im Unternehmen seine eigene Initiative vorantreibt, erleichtern sie die Zusammenarbeit und helfen, Teams zu bilden. Historisch gesehen sind wir Menschen am widerstands- und leistungsfähigsten, wenn wir in Teams arbeiten. Die Nutzung dieses Vorteils erleichtern Scrum Master mit ihrer Arbeit.
Wegen dieser Vorteile denke ich, dass die erste Fähigkeit, die ein Scrum Master erlernen sollte, Facilitation ist. Facilitation kann der Hebel für langfristige Veränderungen im Unternehmen sein. Mit dieser Einsicht stehe ich auch nicht allein da. Das „World Economic Forum“ hat eine Top-10-Liste der „Skills von morgen“ veröffentlicht. Und wenn du die Liste im Detail ansiehst, wirst du sehen, dass ein Facilitator acht dieser zehn Fähigkeiten in Teams fördert und erleichtert:
- Analytisches Denken und Innovation
- Aktives Lernen und Lernstrategien
- Komplexe Problemlösung
- Kritisches Denken
- Kreativität
- Leadership und soziale Kompetenz
- Technologische Fähigkeiten
- Technologische Entwicklung und Programmierung
- Resilienz, Stresstoleranz und Flexibilität
- Problemlösung und Ideenfindung
Wenn du meiner Einschätzung vertraust, dann empfehle ich dir, damit zu beginnen, die Scrum Events deines Teams durch Facilitation zu verbessern.
Wenn du dabei nach Unterstützung suchst, dann besuche das „Professional Scrum Facilitation Skills“-Training. In diesem Training helfen Marc Kaufmann und ich dir, ein besserer Facilitator zu werden. Und das Beste zum Schluss:
Die Prinzipien, Techniken und Fähigkeiten, die du im Training lernst, kannst du direkt anwenden. Viele ehemalige Teilnehmer berichten uns davon, wie sehr ihnen das Training bereits am ersten Tag nach dem Training geholfen hat.