Hand aufs Herz: Wie häufig reflektierst du deine Arbeit?
Warum frage ich dich das?
Würdest du dem Trainingsplan eines Fitnesstrainers folgen, der selbst keinen Sport macht? Würdest du die Ratschläge eines Finanzberaters ernst nehmen, der nicht an der Börse handelt? Würdest du dich an das Rezept eines Kochs halten, das er noch nicht gekocht hat?
Eher nicht.
Wenn es dir wie mir geht, dann schenkst du den Ratschlägen solcher Personen nur wenig Glaubwürdigkeit. Es sind keine Personen, denen du freiwillig folgst. Und vermutlich bewunderst du diese Personen auch nicht für ihre Erfolge.
Allerdings sollten Scrum Master Vorbilder sein.
Der Scrum Guide beschreibt Scrum Master als „echte Führungspersönlichkeiten“. Und es ist doch so: Wenn dir niemand folgt, dann führst du auch nicht. Willst du, dass die Mitglieder im Team dir folgen, dann solltest du ihr Vertrauen gewinnen. Du solltest in allen Dingen als gutes Beispiel vorangehen und nicht als Zuschauer von der Seitenlinie kluge Ratschläge geben – oder wie ein Pastor nur predigen, was im Scrum Guide geschrieben steht.
Wie gehst du voran? Womit beginnst du?
Aus meiner Sicht ist der einfachste Weg, persönliche Retrospektiven abzuhalten.
Regelmäßige Retrospektiven sind der Motor für kontinuierliche Verbesserung. Sie fördern Fehlerkultur, Vertrauen und Entwicklung. Retrospektiven sind das Herzstück von Scrum. Deshalb mache ich seit vielen Jahren persönliche Retrospektiven – mindestens einmal die Woche, meistens am Freitag. Damit zeige ich jedem im Team, dass ich lebe, was ich zu erzählen habe. Und ich bin überzeugt, dass Scrum wirklich funktioniert.
Wenn du dieses Vorgehen auch übernehmen möchtest, findest du hier meine drei Lieblingsformate näher erklärt:
Retrospektive #1: Segelboot
Gute Retrospektiven leben von einer Metapher.
Ein Segelboot, das eine Insel erreichen will und dabei Klippen umschiffen muss, ist eine schöne Metapher. Sie lädt dazu ein, zu reflektieren, wie du dich in deiner Arbeit als Scrum Master entwickelst.
Mit dieser Metapher wird dein Weg als Scrum Master realer und greifbarer.
Hier die Elemente der Retrospektive im Überblick:
- Die Insel symbolisiert das Ziel, worauf du hinarbeitest.
- Der Wind treibt das Boot an. Hier geht es um die Faktoren, Ergebnisse und Stärken, die dich dabei unterstützen, das Ziel zu erreichen.
- Der Anker hält das Boot zurück. Er symbolisiert Hindernisse, Probleme und Herausforderungen, die deinen Fortschritt verlangsamen.
- Das Riff steht für potenzielle Gefahren und Risiken. Es könnte das Schiff beschädigen und somit das Erreichen des Ziels gefährden.
Um die Elemente der Retrospektive zu füllen, stelle dir diese Fragen:
- Die Insel: Was ist dein Ziel? Was möchtest du erreichen?
- Der Wind: Welche Dinge haben dir bisher geholfen, voranzukommen?
- Der Anker: Was hält dich zurück, das Ziel zu erreichen? Oder was bremst dich im Moment?
- Das Riff: Welche versteckten Risiken oder Gefahren liegen vor dir?
In der Arbeit als Scrum Master sind Erfolg und Fortschritt häufig nur schwer sichtbar. Deshalb kannst du diese Retrospektive einmal pro Woche nutzen, um den Fortschritt doch sichtbar zu machen und Handlungen für die nächste Woche abzuleiten.
Ich habe noch einmal eines meiner Notizbücher von 2019 herausgekramt und gebe dir hier ein Beispiel daraus:
Damals war ich Scrum Master in einem Team. Scrum war für das Team nicht unbekannt. Allerdings fielen mir viele Probleme bei der Umsetzung auf.
- Mein Ziel lautete daher: „Scrum einführen, damit es dem Team hilft, ein besseres Produkt zu entwickeln.“
- Der Wind: „Daily Scrum mit den drei Fragen läuft gut. Retrospektiven werden gemacht. Das Sprint-Planning endet mit einem konkreten Ziel für den Sprint. Hohe Qualität bei der Entwicklung.“
- Der Anker: „Im Review sind keine Kunden anwesend. Es gibt keine Metriken, die den Erfolg des Produkts widerspiegeln. Das Team ist zu groß. Refinement wird nur stiefmütterlich gemacht.“
- Das Riff: „Gibt es Nutzer und Kunden für das Produkt oder ist es nur eine Technologieplattform?“
Ich mag Themenretrospektiven und mein Lieblingsthema ist ein Segelboot. Gleichzeitig ist diese Retrospektive etwas zu flach, um die Arbeit als Scrum Master zu reflektieren.
Deshalb hier ein weiteres Format:
Retrospektive #2: „Was, warum, und jetzt?“
Die Segelboot-Retrospektive bleibt nur an der Wasseroberfläche.
Ihr Augenmerk liegt darauf, Beobachtungen, Fakten und Erkenntnisse zu sammeln. Sie bietet allerdings wenig Anleitung, auch unter Wasser zu schauen.
Bei komplexeren Problemen ist das allerdings nötig und dabei hilft ein strukturierter Ansatz zur Reflexion.
Ich nutze die Arbeit von Terry Borton dafür. Terry Borton war ein amerikanischer Schullehrer und hat im Jahr 1970 das Buch „Reach, Touch, and Teach“ veröffentlicht. Dort stellt er einen strukturierten Ansatz zur Reflexion vor, der auf diesen drei Fragen beruht: „Was?“, „Warum?“ und „Und jetzt?“. Bist du ein Fan von Liberating-Structures? Dann solltest du jetzt erkannt haben, welches Vermächtnis Terry Borton hinterlassen hat.
Wie kannst du diese drei Fragen nutzen, um deine Arbeit als Scrum Master zu reflektieren?
Betrachten wir den Satz aus meinem Beispiel genauer: „Im Review sind keine Kunden anwesend.“ Mit den Fragen „Was?“, „Warum?“ und „Und jetzt?“ können wir die Situation ergründen:
- Ich frage mich: „Was?“, und schreibe auf, was passiert ist, welche Beobachtungen ich gemacht habe und was mir dabei aufgefallen ist: „Es waren keine Kunden im Sprint-Review, sondern nur Mitglieder von anderen Scrum Teams und der Teamleiter. Auf die Frage, wo und wer die Kunden sind, habe ich keine Antwort erhalten.“
- Dann frage ich mich: „Warum war das wichtig?“, und analysiere, warum dies geschehen sein könnte und welche Annahmen oder Schlussfolgerungen ich daraus ziehen kann: „Ohne Feedback von Kunden fehlt dem Produkt ein objektives Maß für Fortschritt. Vielleicht waren die Kunden nur nicht eingeladen und es gibt andere Kanäle für Feedback.“
- Zum Schluss frage ich mich: „Und jetzt?“, um aus meinen bisherigen Erkenntnissen einen konkreten nächsten Schritt abzuleiten: „Ich werde dieses Thema behutsam beim Product-Owner ansprechen.“
Diese drei Fragen helfen mir, über vergangene Erfahrungen oder Ereignisse nachzudenken. Dann treffe ich eine Entscheidung darüber, wie ich weitermache.
Mit den drei Fragen „Was?“, „Warum?“ und „Und jetzt?“ in der Retrospektive lässt sich die Arbeit von uns Scrum Mastern gut ergründen und es lassen sich Handlungen ableiten. Allerdings ist Fortschritt bei der Lösung von Problemen in deiner Arbeit oft nur über einen gewissen Zeitraum hinweg sichtbar und bewertbar.
Für alles, was über einen längeren Zeitraum hinweg funktionieren soll, braucht es ein anderes Format:
Retrospektive #3: Ecocycle-Planning
Mein Lieblingsformat für jede Retrospektive.
Und natürlich auch für eine persönliche Retrospektive als Scrum Master. „Ecocycle-Planning“ ist ein Werkzeug zur Planung deines Portfolios. Damit kannst du deine Aktivitäten sichtbar machen und auch deren Veränderung über die Zeit betrachten.
Der Ecocycle orientiert sich dabei am Lebenszyklus einer Pflanze.
Dieser sieht grob so aus:
Fällt ein Samenkorn in fruchtbaren Boden, keimt es (Erneuerung). Die Keimlinge benötigen Sonne, Wasser, Schutz und Mineralien, um zu wachsen (Wachstum). Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wachsen die Keimlinge zu Pflanzen heran, die Früchte tragen und neue Samen verbreiten (Reifung). Doch irgendwann sterben die alten Pflanzen ab und werden kompostiert, um Energie für neue Pflanzen zu gewinnen. Dadurch wird Platz geschaffen, damit neue Pflanzen aus den Samen im Boden wachsen können (kreative Zerstörung).
Dieser Prozess ist in diesem Bild dargestellt:
Nutzen wir den Ecocycle als Metapher, können wir die Situation aus dem Jahr 2019 auch so betrachten:
- Erneuerung: Refinement wird nur stiefmütterlich gemacht. Es gibt keine Metriken, die den Erfolg des Produkts widerspiegeln.
- Geburt: Das Sprint-Planning endet mit einem konkreten Ziel für den Sprint.
- Reife: Retrospektiven werden gemacht. Daily Scrum mit den drei Fragen läuft gut. Hohe Qualität bei der Entwicklung.
- Kreative Zerstörung: Im Review sind keine Kunden anwesend.
Das Geniale an der Retrospektive mit dem Ecocycle?
Die Beobachtungen, Erkenntnisse und Handlungen sind in ständiger Bewegung. Nachdem ich mit dem Product-Owner über das Sprint-Review gesprochen hatte, haben wir uns verabredet. Wir erstellten eine Agenda für das nächste Review und schickten eine Einladung zum Review an Stakeholder aus dem Unternehmen.
Dann würde ich diese zwei Punkte unter Erneuerung des Reviews im Ecocycle gruppieren.
Regelmäßig Retrospektiven über unsere eigene Arbeit als Scrum Master durchzuführen, stellt für mich die Grundlage der Arbeit eines Scrum Masters dar.
Nur wenn wir mit gutem Beispiel vorangehen, werden die Mitglieder im Team uns auch freiwillig folgen wollen. Und das bedeutet es am Ende, wenn du als Scrum Master führen möchtest.
Aber es gibt noch einen weiteren Vorteil:
Stell dir vor, du bekommst ein einfaches Sudoku zum Lösen. Du löst es. Bevor du ein weiteres Rätsel lösen darfst, hast du die Wahl:
Entweder du bekommst drei Minuten, um weitere Rätsel zu üben, oder du bekommst drei Minuten, um zu reflektieren, was du gerade getan hast und wie du dich verbessern kannst.
Wenn du wie die meisten Menschen bist, wählst du wahrscheinlich die erste Option. Forscher um Giada Di Stefano von der Universität Bocconi in Italien haben ein Experiment durchgeführt. In diesem Experiment zeigte sich, dass 82 % der Befragten die erste Option wählen.
Was die meisten jedoch nicht wissen – und was die Studie belegt:
Die zweite Option ist oft die bessere Wahl. Die Reflexionsgruppe schnitt in den nachfolgenden Runden des Mathematikrätsels besser ab als die Praxisgruppe und die Kontrollgruppe.
Somit können wir festhalten, dass Reflexion ein mächtiges Werkzeug für das Lernen und Arbeiten ist – und für die langfristige Weiterentwicklung als Scrum Master.
Deshalb machen regelmäßige Retrospektiven deiner eigenen Arbeit dich nicht nur authentischer, sondern sie helfen dir auch, dich stetig weiterzuentwickeln und deinen Weg auf der Karriereleiter zu gehen.
Suchst du noch weitere Hilfestellung für deine Arbeit als Scrum Master? Dann empfehle ich dir einen Besuch des „Professional Scrum Master – Advanced“-Trainings. Dort zeigen dir Marc und ich, wie du dich als Scrum Master weiterentwickeln kannst.
Über 271 Scrum Master sind unserer Empfehlung bereits gefolgt und haben sich das Professional-Scrum-Master-II-Zertifikat gesichert und sind den nächsten Schritt in ihrer Karriere gegangen.
Noch unsicher, ob das Training zu dir passt?
Dann wirf einen Blick auf dieses Video, es gibt dir eine guten Einblick, was andere bereits erlebt haben.