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Lieber Scrum Master, beherzigst du diese Prinzipien in deiner Retrospektive?

June 5, 2023

„Welche Regeln sollte ich als Scrum Master beachten, damit die Sprint Retrospektive erfolgreich verläuft?“

Diese Frage wird mir mehrmals pro Woche gestellt, auf jeden Fall immer, wenn ich das Training „Professional Scrum Facilitation Skills“ gebe. Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir diese Frage schon seit meinem ersten „Professional Scrum Master“-Training im Februar 2020 gestellt.

Warum erzähle ich das?

Das Interessante an dieser Frage ist nicht, dass angehende Scrum Master nach Wegen suchen, um bessere Sprint Retrospektiven durchzuführen, sondern, nach welchen Wegen sie dabei suchen.

Sie suchen nach Regeln.

Während ein Regelwerk beim Betrieb von Maschinen oder der Nutzung von Computerprogrammen hilfreich sein mag, ist es das auf keinen Fall, wenn es darum geht, ein Team von Menschen in ihrer Entwicklung zu unterstützen und ihnen Orientierung zu geben. Wenn wir mit Maschinen arbeiten, gehen wir davon aus, dass wir von außen mit den richtigen Werkzeugen vordefinierte Veränderungen vornehmen können. Wenn wir mit einer Gruppe von Menschen arbeiten, ist dies niemals der Fall. Ein Team von Menschen ist ein lebendiges System und die Reaktion auf die Umwelt zeigt sich verzögert und ist selten exakt vorhersagbar. Die Frage „Welche Regeln sollte ich als Scrum Master beachten, damit die Sprint Retrospektive erfolgreich wird?“ suggeriert, dass wir eine Sprint Retrospektive konstruieren können wie eine Maschine. Und zur Durchführung einer erfolgreichen Retrospektive gibt es dann eine Abfolge von Schritten, die beständig zum gleichen, wiederholbaren und vorhersagbaren Ergebnis führen.

Als erfahrener Scrum Master wirst du mir zustimmen, dass dem nicht so ist. Wenn es kein festes Regelwerk gibt, an welches wir uns in einer Retrospektive halten können, woran können wir uns dann orientieren?

Prinzipien sind das richtige Mittel zur Orientierung.

Während Regeln ausschließen, einschränken und absolut sind, sind Prinzipien offen, geben Orientierung und laden zur Erkundung ein. Prinzipien sind unser Sicherheitsnetz in Retrospektiven, auf das wir zurückgreifen können, wenn die Situation schwierig wird und kein Pfad zum Ziel zu erkennen ist.

Im Folgenden findest du vier Prinzipien, an denen ich mich in meiner Arbeit mit Teams orientiere:

  • Prinzip 1: Wichtiger als ein perfektes Ergebnis ist es, anzufangen.
  • Prinzip 2: Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich.
  • Prinzip 3: Verlasse dich nicht allein auf die Kreativität der Teilnehmer.
  • Prinzip 4: Konkrete Situationen sind besser als abstrakte Konzepte.

Im Folgenden stelle ich dir die Prinzipien im Detail vor und erkläre, wie sie dir in den Sprint Retrospektiven helfen.

Professional Scrum Master Training Simon Flossmann

Prinzip 1: Wichtiger als ein perfektes Ergebnis ist es, anzufangen.

Perfektion ist das Gegenteil von Fortschritt.

Dies gilt auch für Sprint Retrospektiven. In einer Sprint Retrospektive haben die Teilnehmer nie alle Informationen. Es gibt immer Dinge, die wir nicht wissen, Zusammenhänge, die wir nicht kennen, Probleme, die wir nicht lösen können, oder Unterstützung, die uns fehlt. Die einzige Möglichkeit, Fortschritt zu erzielen, ist, anzufangen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir scheitern werden.

Der schnellste Weg, zu lernen, besteht bekanntlich darin, zu scheitern.

Sollte dein Scrum Team sich wieder in endlose Diskussionen verstricken, die sich darum drehen, dass Dinge nicht umgesetzt werden können oder uns hier Unterstützung fehlt oder die Veränderung niemals in einem Sprint zu bewerkstelligen ist, dann lass dich vom Prinzip „Wichtiger als ein perfektes Ergebnis ist es, anzufangen“ leiten und stelle beispielsweise folgende Fragen:

  • „Was sind unsere 15 %? Wo haben wir die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu handeln? Was können wir tun, ohne nach zusätzlichen Ressourcen oder Erlaubnis fragen zu müssen?“
  • „Wenn die perfekte Umsetzung des Verbesserungsvorschlags eine 10 wäre, was wäre dann eine 3, was wäre eine 2 und was wäre eine 1?“

Prinzip 2: Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich.

Welcher Scrum Master kennt das nicht?

Nach anfänglicher guter Stimmung im Team ist die Laune mittlerweile am Tiefpunkt angekommen. Seit einer Stunde diskutieren Tom und Jenny das Für und Wider von Pair-Programming und ob wir es als Team verpflichtend machen sollten. Jenny ist dafür. Für sie führt Pair-Programming zu höherer Codequalität und einem größeren Zusammenhalt im Team. Tom dagegen argumentiert, dass es mehr Zeit kostet und das Team somit insgesamt weniger Tasks im Sprint abschließen kann. Tom ist schon lange im Unternehmen und hat den Status eines Seniorentwicklers im Team. Als er die restlichen Teammitglieder auffordert, Stellung zu beziehen, sprechen sich Lisa, Ingo und Pat dagegen aus, Pair-Programming im Team verpflichtend zu machen, ohne eine Begründung zu nennen.

Auf dem Heimweg vom Büro triffst du Lisa in der S-Bahn und sie erzählt dir, wie in ihrem letzten Team Pair-Programming der Schlüssel war, um sich kontinuierlich fachlich weiterzuentwickeln, und dass es dazu mittlerweile auch Studien gibt, die diesen positiven Effekt bestätigen.

Was ist passiert?

Obwohl es stichhaltige Argumente für Pair-Programming gab, hat sich Lisa mit ihrem Urteil der Mehrheit der Gruppe angeschlossen, obwohl sie selbst der Überzeugung war, dass das falsch war.

Das Phänomen ist als Gruppendenken bekannt.

Da dieses Phänomen in Scrum Teams zu schlechten Entscheidungen führt, solltest du in deiner Retrospektive immer dem Prinzip folgen: „Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich!“ Du kannst dieses Prinzip ganz einfach umsetzen, indem du bei Diskussionen regelmäßig vom Sprechen ins Schreiben wechselst. Somit ermöglichst du jedem, seine Ideen zum Thema festzuhalten und sie anderen vorzustellen.

Prinzip 3: Verlasse dich nicht allein auf die Kreativität der Teilnehmer – gute Ideen entstehen aus einem guten Prozess.

Am 4. September 1998 gründeten Larry Page und Sergey Brin Google Inc. in einer Garage in Menlo Park.

Wir alle wollen glauben, dass kreative Ideen und unternehmerische Durchbrüche diesem Rezept folgen: Ein Genie sperrt sich für einige Jahre in seine Garage ein und kommt erst wieder raus, wenn es eine revolutionäre Idee entwickelt hat. In der Realität ist dies jedoch kein verlässliches Rezept für gute Ideen.

Einfachere und wiederholbare Ansätze, um kreative Ideen zu finden, sehen wir, wenn wir Google Design Sprint, Design Thinking oder ähnliche Methoden betrachten. Diese Methoden haben alle eines gemeinsam: Der Prozess sorgt für gute Ideen. Als Scrum Master solltest du für deine Sprint Retrospektiven auch einen Prozess finden, der dafür sorgt, dass gute Ideen entstehen, ungeachtet der Kreativität der Teilnehmer.

Für mich hat sich hier das Modell von „divergentem Denken zu konvergentem Denken“ von Sam Kaner bewährt. Sam Kaner unterteilt den Prozess der Entscheidungsfindung in zwei Phasen. Da eine Retrospektive vereinfacht einer Entscheidungsfindung entspricht, hilft uns dieses Modell, dem Team zu helfen, gute Ideen zu erzeugen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Daher ist die erste Phase als „divergentes Denken“ bekannt und die zweite Phase als „konvergentes Denken“.

Hier sind einige Beispiele für divergentes Denken:

  • Alternativen generieren
  • Frei fließende, offene Diskussion
  • Sammeln verschiedener Perspektiven
  • Aussetzen von Urteilen

Und hier sind einige Beispiele für konvergentes Denken:

  • Alternativen bewerten
  • Zusammenfassung der wichtigsten Punkte
  • Sortieren von Ideen in Kategorien
  • Beurteilung von Lösungen

In der Realität passiert der Übergang vom divergenten Denken zum konvergenten Denken nicht reibungslos. Hier knirscht es. Wenn du mehr darüber erfahren willst, dann schaue dir mein Video zu diesem Thema an.

Das Modell von Sam Kaner hilft dir, Retrospektiven durchzuführen, in welchen du dich nicht auf die Kreativität der Teilnehmer verlassen musst. Stattdessen gibt es dir einen Prozess, der gute Ideen hervorbringt.

Prinzip 4: Konkrete Situationen sind besser als abstrakte Konzepte.

Wenn ich vergangene Sprint Retrospektiven Revue passieren lasse und mir anschaue, welche zu Verbesserungen geführt haben, die auch umgesetzt wurden, dann sehe ich ein klares Muster:

Je konkreter die Problemstellung und der Verbesserungsvorschlag formuliert waren, desto wahrscheinlicher wurde die Verbesserung umgesetzt. Waren die Vorschläge jedoch nur abstrakte Konzepte oder vage Wünsche, dann wurden sie nicht weiterverfolgt. Über die Jahre konnte ich immer wieder beobachten, dass eine starke Korrelation zwischen Konkretheit und Umsetzungswahrscheinlichkeit besteht. Mehr noch: Ich konnte auch beobachten, dass der Umsetzungswille steigt, wenn die Teammitglieder positiv über die bevorstehende Veränderung sprechen.

Dieser Erkenntnis bedienen sich auch Coaching-Ansätze:

  • Im lösungsfokussierten Coaching lautet ein Prinzip: Fokus auf eine bessere Zukunft. Es erinnert daran, das Bild einer besseren Zukunft mit Details auszuschmücken. Es beschreibt auch die Idee, dass es umso wahrscheinlicher ist, dass wir an unserem Ziel ankommen, je detaillierter wir es vorher kennen.
  • In der „motivierenden Gesprächsführung“ wird dieser Zusammenhang als Change-Talk bezeichnet. Ein Grundprinzip dieser Technik besteht darin, dass die Motivation gestärkt wird, wenn man sich selbst seine Argumente anhört, die für die Veränderungen sprechen.

Wenn es deinem Team auch manchmal an Umsetzungswillen fehlt, halte dich in der Retrospektive an das Prinzip: „Konkrete Situationen sind besser als abstrakte Konzepte.“

Hier sind zwei Beispielfragen aus einer meiner letzten Retrospektiven, die dieses Prinzip umsetzen:

  • „In welcher Situation ist das Problem aufgetreten? Woran machen wir fest, dass es ein Problem ist? Woran erkennen wir, dass das Problem gelöst wurde?“ Diese Fragen halfen den Teammitgliedern, die Problemsituation so detailliert zu beschreiben, dass sich jeder darin wiederfinden konnte, auch wenn er am besagten Tag nicht dabei war.
  • „Wenn wir im Team Fehler offen ansprechen, was würde uns das in der Zusammenarbeit ermöglichen und was nicht?“ Diese Frage fokussiert auf die bessere Zukunft und fragt danach, wie es dort wohl aussehen könnte. Diese Frage unterstützt das Team dabei, ein klares Zielbild zu formulieren.

Unterscheidest du zwischen Regeln und Prinzipien? Und welche Regeln oder Prinzipien leiten dich bei der Durchführung von Sprint Retrospektiven? Schreibe sie in die Kommentare.


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