In Kürze: Reines Scrum?
Können Sie sich darauf verlassen, dass reines Scrum Ihre Organisation transformiert und einen Mehrwert schafft? Nicht immer: Scrum zeichnet sich zwar durch Einfachheit und Flexibilität aus, aber es „out of the box“ im Unternehmenskontext anzuwenden, ist aufgrund seiner Beschränkungen in den Bereichen Product Discovery, Skalierung und Portfoliomanagement oft nicht möglich.
In diesem Artikel werden wir die Bedingungen untersucht, unter denen reines Scrum gedeiht, die organisatorische DNA, die zu seiner Unterstützung erforderlich ist, und praktische Szenarien, in denen es am besten funktioniert – zusammen mit einem ehrlichen Blick darauf, wo es Schwierigkeiten bereitet. Finden Sie heraus, ob reines Scrum ein realistischer Ansatz für Ihr Team ist und wie durchdachte Adaption sein wahres Potenzial freisetzen kann.
Reines Scrum und seine Einschränkungen
„Reines Scrum“, wie beschrieben im Scrum Guide, ist ein spezifisches Rahmenkonzept, das dabei hilft, in einer komplexen Umgebung einen Mehrwert für den Kunden zu schaffen. Allerdings stellen fünf grundlegende Probleme eine Herausforderung für die allgemeine Anwendung in Unternehmen dar:
- Reines Scrum konzentriert sich auf die Umsetzung: Wie können wir vermeiden, in die falsche Richtung zu laufen, indem wir Dinge entwickeln, welche die Probleme unserer Kunden nicht lösen?
- Reines Scrum ignoriert insbesondere die Entdeckung von Produkten und das Produktmanagement im Allgemeinen. Wenn man sich den Double Diamond vorstellt, um ein beliebtes Bild zu verwenden, konzentriert sich Scrum auf die rechte Seite; siehe Nr. 1.
- Reines Scrum ist auf ein einzelnes Team ausgelegt, das sich auf die Unterstützung eines einzelnen Produkts oder einer einzelnen Dienstleistung konzentriert.
- Reines Scrum befasst sich nicht mit dem Portfoliomanagement. Es ist nicht darauf ausgelegt, mehrere Produktinitiativen oder Projekte aufeinander abzustimmen und zu verwalten, um strategische Geschäftsziele zu erreichen.
- Reines Scrum basiert auf weitreichender Teamautonomie: Der Product Owner entscheidet, was entwickelt werden soll, die Entwickler entscheiden, wie es entwickelt werden soll, und das Scrum-Team verwaltet sich selbst.
Während kontinuierliche Feedbackschleifen, von der Verfeinerung des Produkt-Backlogs über Daily Scrum und Sprint Review bis hin zur Retrospektive, bei der Umsetzung und der Risikominimierung helfen, ist das Fehlen von „Produktgenen“ eine größere Herausforderung. Die Vorstellung, dass der Product Owner weiß, was es wert ist, entwickelt zu werden, ist unkonventionell. Folglich stehen viele Praktiker, insbesondere aus der Führungsebene, diesem Maß an Vertrauen skeptisch gegenüber. Infolgedessen wird den meisten Product Ownern gesagt, was sie tun sollen: Anforderungen, Fristen, Feature-Fabriken – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Außerdem ist es selten, dass es nur ein Scrum-Team in der Produktentwicklung gibt, es sei denn, man arbeitet für ein Startup in den Anfangstagen. Meistens entwickeln mehrere Teams ein Produkt. Scrum-Skalierungs-Frameworks wie LeSS oder Nexus versuchen, das Defizit zu beheben, oft mit begrenztem Erfolg. Eng damit verbunden ist das Fehlen jeglicher Abstimmungsebene oder eines Abstimmungsprozesses bei reinem Scrum; „Alignment“ mit anderen Ebenen gibt es nicht. Dieser Mangel könnte auch der Punkt sein, an dem SAFe® seine wohl beste „Leistung“ im Unternehmensumfeld erzielt, wenn man diesen Begriff in Verbindung mit SAFe® verwenden möchte.
Schließlich spiegelt der Management- oder Führungsansatz von reinem Scrum, der auf Autonomie und Handlungsfreiheit auf Teamebene ausgerichtet ist, nicht die typischen Organisationsstrukturen von Unternehmen wider, die in vielen Fällen immer noch an die Praktiken des industriellen Paradigmas anknüpfen.
Die Frage liegt auf der Hand: Unter welchen Umständen kann reines Scrum oder Scrum „out of the box“ erfolgreich sein?
Reines Scrum und sein organisatorisches Ökosystem
Angesichts der zuvor identifizierten Einschränkungen können wir sagen, dass reines Scrum nicht nur ein Rahmenwerk ist – es ist eine Organisationsphilosophie, die nur in bestimmten kulturellen Umgebungen gedeiht. Stellen Sie es sich wie eine empfindliche Pflanze vor, welche die richtigen Bedingungen benötigt, um zu gedeihen. In diesen seltenen Umgebungen arbeiten Teams mit Vertrauen und Offenheit, was Scrum von einer Ansammlung von Praktiken in einen lebendigen, atmenden Ansatz zur Wertschöpfung verwandelt.
Die ideale Organisations-DNA
Der fruchtbarste Boden – um bei der Pflanzenmetapher zu bleiben – für reines Scrum existiert in Organisationen, die sich durch ein radikales Bekenntnis zu Zusammenarbeit und kontinuierlichem Lernen auszeichnen. Dabei handelt es sich in der Regel um jüngere, technologieorientierte Unternehmen, in denen Innovation nicht nur gefördert, sondern auch erwartet wird: Softwareunternehmen, Entwickler digitaler Dienste und hochmoderne Forschungs- und Entwicklungsteams sind die ideale Kombination.
Was diese Organisationen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, Unsicherheit zu akzeptieren. Im Gegensatz zu traditionellen Unternehmen, die vom Streben nach Vorhersehbarkeit getrieben werden, verstehen diese Unternehmen, dass echte Innovation ein entspanntes Herangehen an kontrollierte Experimente erfordert. Ihre Führungskräfte tolerieren nicht nur Misserfolge, sie betrachten sie als einen entscheidenden Lernmechanismus. (Das Starship von SpaceX ist ein gutes Beispiel hierfür.)
Größe und Struktur sind wichtig
Pure Scrum findet seine natürlichste Heimat in kleineren Organisationen – in der Regel in Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern. Diese Unternehmen verfügen über Agilität, die eine schnelle Kommunikation, minimale bürokratische Reibung und die Fähigkeit zur schnellen Anpassung ermöglicht. Die Organisationsstruktur ist in der Regel flach, wobei die Entscheidungsfindung auf die Teams verteilt ist und nicht in hierarchischen Managementebenen konzentriert ist.
Kulturelle Unverhandelbarkeiten
Damit reines Scrum wirklich funktioniert, muss eine Organisation Folgendes fördern:
- Psychologische Sicherheit, bei der Teammitglieder ohne Angst ihre Meinung äußern können,
- Ein echtes Bekenntnis zur empirischen Prozesskontrolle,
- Eine Führung, die agile Prinzipien versteht und aktiv unterstützt,
- Finanzierungsmodelle, die eine iterative, schrittweise Umsetzung unterstützen,
- Eine kulturelle Toleranz für kontrolliertes Scheitern und schnelles Lernen – eine Fehlerkultur.
Der Kontrapunkt: Wo reines Scrum scheitert
Im Gegensatz dazu erstickt reines Scrum in Umgebungen wie stark regulierten Branchen, der traditionellen Fertigung, die im industriellen Paradigma des 20. Jahrhunderts feststeckt, und bürokratischen Regierungsbehörden. Diese Organisationen zeichnen sich in der Regel durch Folgendes aus:
- Strenge Prozesse, die auf Sicherung der Belastbarkeit ausgerichtet sind,
- Top-down-Entscheidungsfindung, oft von interner Politik beeinflusst,
- Widerstand gegen Transparenz,
- Kulturen, die auf Bestrafung ausgerichtet sind und von Experimenten abhalten.
Beispiele, in denen reines Scrum funktionieren kann
Reines Scrum eignet sich also am besten für Organisationen, in denen die Komplexität des Problemraums mit dem Fokus von Scrum auf iterative Entwicklung und schnelle Feedbackschleifen im Einklang steht. Der organisatorische Kontext führt jedoch nicht zu Einschränkungen, die eine starke Anpassung erfordern.
Hier sind einige praktische Szenarien und Branchen, in denen reines Scrum gut funktionieren kann:
- Fokus auf ein einzelnes Produkt in Organisationen in der frühen Skalierungsphase: Reines Scrum gedeiht in Organisationen, welche die Startphase hinter sich gelassen haben, aber noch nicht mit einem umfangreichen Portfoliomanagement belastet sind. Beispielsweise kann ein SaaS-Unternehmen mit einem Hauptprodukt und einem dedizierten Team Scrum effektiv nutzen, um sich auf die kontinuierliche Bereitstellung zu konzentrieren und gleichzeitig die Ausrichtung durch die dem Rahmenwerk innewohnende Transparenz zu fördern.
- Interne Entwicklungsteams in größeren Organisationen: Abteilungen oder Einheiten innerhalb größerer Organisationen, die mit klaren Grenzen und minimaler Abhängigkeit von anderen Teams arbeiten, eignen sich ebenfalls gut für reines Scrum. So kann beispielsweise ein Innovationszentrum innerhalb einer etablierten Organisation, das mit KI-gestützten Tools experimentiert, die Probleme der mangelnden Abstimmung vermeiden, die bei skalierten Scrum-Setups häufig auftreten.
- Neue Produktlinien in etablierten Unternehmen: Wenn ein größeres Unternehmen eine neue Produktlinie mit einem dedizierten, eigenständigen Team auf den Markt bringt, kann reines Scrum die erforderliche Struktur bereitstellen, um schnell zu iterieren und sich auf den Markt zu konzentrieren. Ein großer E-Commerce-Anbieter, der beispielsweise eine abonnementbasierte Funktion einführt, kann reines Scrum verwenden, um schrittweise Änderungen zu implementieren, während der Fokus auf Kundenfeedback und Bereitstellungsgeschwindigkeit liegt.
- Teams mit minimalen externen Abhängigkeiten: Reines Scrum funktioniert am besten, wenn Teams ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – wie z. B. Produktteams, welche die gesamte Entwicklungspipeline von der Ideenfindung bis zur Bereitstellung kontrollieren und sowohl den Problem- als auch den Lösungsraum abdecken. Beispielsweise kann ein Team, das eine kundenorientierte App mit eigenem Backend erstellt, mit reinem Scrum erfolgreich sein, da externe Verzögerungen und teamübergreifende Koordination minimiert werden.
- Organisationen, die von Wasserfall auf Agile umsteigen: Reines Scrum ist ein hervorragender Einstiegspunkt für Organisationen, die von traditionellen Wasserfallmethoden auf Agile umsteigen. Durch die klare Fokussierung auf die Grundprinzipien von Scrum, wie die Bereitstellung von auslieferbaren Inkrementen und die Priorisierung von Transparenz, können diese Avantgarde-Teams eine starke, agile Kultur aufbauen, bevor sie komplexere Themen wie Skalierung oder hybride Ansätze in Angriff nehmen.
Der rote Faden in diesen Beispielen ist Autonomie und Klarheit des Zwecks. Reines Scrum hat Schwierigkeiten, wenn es mit Abhängigkeiten, falsch ausgerichteten Anreizen oder konkurrierenden Prioritäten konfrontiert wird, aber es ist hervorragend, wenn Teams befähigt werden, sich selbst zu verwalten, sich auf ein einziges Ziel zu konzentrieren und in iterativen Zyklen kundenorientierten Wert zu liefern.
Schlussfolgerung
Im Kern ist reines Scrum weniger ein Projektmanagement-Framework als vielmehr ein Spiegelbild des grundlegenden Ansatzes einer Organisation zur Wertschöpfung. Es erfordert eine tiefgreifende Veränderung der Sichtweise, Arbeit nicht mehr als eine Reihe vorgeschriebener Schritte zu betrachten, sondern als eine kontinuierliche Reise der Entdeckung und Adaption. Bei den erfolgreichsten Implementierungen geht es daher nicht darum, eine Reihe von Regeln perfekt zu befolgen, sondern eine Denkweise der kontinuierlichen Verbesserung, radikalen Transparenz und aufrichtigen Zusammenarbeit zu verinnerlichen.
Letztendlich kann die Anwendung von reinem Scrum dazu führen, dass die individuelle Art und Weise einer Organisation, Werte zu schaffen, identifiziert wird und somit Scrum als ursprüngliches Rahmenwerk langfristig aufgegeben wird. Das ist in Ordnung: Wir werden nicht dafür bezahlt, Scrum zu praktizieren, sondern die Probleme unserer Kunden innerhalb der gegebenen Einschränkungen zu lösen und gleichzeitig zur Nachhaltigkeit der Organisation beizutragen.
In allen anderen Fällen werden Sie Schwierigkeiten haben, Scrum in einem Unternehmenskontext „out of the box“ anzuwenden; die fünf skizzierten Einschränkungen werden ihren Tribut fordern und viel „Engineering“ erfordern, um die Vorteile von Scrum zu nutzen und sich gleichzeitig an die organisatorischen Anforderungen anzupassen.
Die gute Nachricht ist, dass ein undogmatischer, geschickter Ansatz bei der Adaption von Scrum verhindern kann, dass eine weitere verkorkste Version des „Unternehmens-Scrum“ entsteht, das wir alle ablehnen.
Wenden Sie reines Scrum an? Bitte teilen Sie uns Ihre Erfahrungen in den Kommentaren mit.
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