Überraschend viele Scrum Master berichten, wie wenig Verbesserungsideen ihr Team in der Sprint Retrospektive findet.
Das ist nicht weiter verwunderlich.
Denke nur an deine Schul-, Studien- oder Ausbildungszeit zurück. Dort wurden wir geschult, Sachverhalte zusammenzufassen, Themenstellungen zu analysieren, Information zu sortieren, unwichtige Dinge auszuschließen und Entscheidungen zu treffen. Wir wurden darin ausgebildet, konvergent zu denken. Also darin, den vielversprechendsten Ansatz aus vielen Möglichkeiten auszuwählen.
Allerdings entspricht in der Sprint Retrospektive viele Ideen zu erzeugen, genau dem Gegenteil.
Hier ist divergentes Denken gefordert. Es bedeutet, viele unterschiedliche Möglichkeiten oder Perspektiven zu generieren. Beim divergenten Denken geht es darum, breit zu denken, sich von etablierten Mustern zu lösen und vielfältige Lösungsansätze oder Optionen zu entwickeln.
Eine Fähigkeit, die wir nicht gelernt haben und die wir erst lernen müssen.
Als Scrum Master ist es unsere Aufgabe, diese Fähigkeit bei jedem Einzelnen im Team zu entwickeln und zu fördern. Der Lohn dafür: Ist diese Fähigkeit weit entwickelt, dann können wir mit guter Facilitation die beiden Denk-Modi „an- und abschalten“. Dadurch können wir dem Team in der Retrospektive helfen, sowohl viele Ideen für mögliche Verbesserung zu finden als auch den besten Verbesserungsvorschlag auszuwählen.
Brainstorming ist ein einfaches Werkzeug, um divergentes Denken zu fördern
Brainstorming genießt fälschlicherweise einen schlechten Ruf.
Dies liegt nicht an Alex Faickney Osborns Idee, sondern an der schlechten Umsetzung. Schlechtes Brainstorming erkennst du daran, dass einzelne Gruppenmitglieder die Diskussion dominieren. Oder dass Ideen einzelner Gruppenmitglieder kritisiert werden oder — noch schlimmer —sogar der Ideengeber selbst. Wenn Brainstorming unter Zeitdruck geschieht oder die Ideen nicht dokumentiert und deshalb häufig wiederholt werden, sind das auch Anzeichen, dass Brainstorming nicht so umgesetzt wird, wie es eigentlich gedacht ist.
Richtig eingesetzt ist Brainstorming eine einfache und zugleich effektive Art, um
- eine große Anzahl von Ideen zu generieren,
- Ideen schnell zu finden,
- die Auswahl an Alternativen zu erweitern,
- Einsichten aus einer Gruppe mit breitem Fachwissen zu generieren,
- verzwickte und komplexe Probleme anzugehen,
- Begeisterung für ein Thema zu entfachen,
- Teamarbeit zu verbessern.
Dadurch eignet es sich besonders, um in Sprint Retrospektiven oder Refinement-Sessions viele Ideen zu generieren. Damit Brainstorming auch in deinem Team ein Erfolg wird, solltest du einige Tipps beachten. Diese Tipps stammen von „IDEO U“ einer der führenden Schulen im Bereich Design Thinking.
7 Tipps, auf die du beim Brainstorming achten solltest
Tipp 1: Verbiete deinem Team, Urteile beim Brainstorming zu fällen
Kreativität entsteht in der Abwesenheit von Urteilen.
Wenn dein Team Ideen generiert, verbiete ihm, seine oder die Ideen der Teammitglieder zu bewerten. Bewerten von Ideen ist eine Technik, die konvergentes Denken einläutet. Und das möchtest du ja unter allen Umständen vermeiden.
Tipp 2: Ermutige dein Team auch wilde Ideen zu äußern
Der Unterschied zwischen einer unerhörten und brillanten Idee ist oft nicht groß.
Alle Ideen sind willkommen. Erinnere dein Team zu Beginn der Brainstorming-Session daran: Es gibt keine zu verrückten, wilden oder abstrusen Ideen, sondern erst mal nur Ideen.
Tipp 3: Hilf dem Team, aus bereits bestehenden Ideen neue Ideen zu generieren
Ein kleines Wort macht hier schon den Unterschied.
Um Ideenvielfalt zu fördern, hilf deinem Team das Wort „aber“ durch das Wort „und“ zu ersetzen. „Aber“ vereint und schließt aus. „Und“ verbindet und fördert eine positive Einstellung und den Einbezug anderer. Es führt somit zu einer Fülle von Ideen.
Tipp 4: Unterstütze dein Team dabei, sich auf ein Thema zu konzentrieren
Durch divergentes Denken und ohne Fokus drehen wir uns schnell im Kreis.
Du kannst dem Team helfen, auch während des Brainstormings beim Thema zu bleiben, indem du eine spezifische Einladung zum Brainstorming aussprichst. Also nicht „Welche Ideen habt ihr?“, sondern beschreibe ein konkretes Problem, etwa: „Am Ende des Sprints konnten wir kein Inkrement ausliefern“. Und jetzt stelle eine konkrete und offene Frage: „Wie könnten wir dieses Problem angehen?“
Tipp 5: Achte darauf, dass jedes Teammitglied seine Ideen beisteuern kann
Jeder kommt an die Reihe, aber einer nach dem anderen.
Wenn die Ideen nur so sprudeln, kann es schwierig sein, dass jeder zu Wort kommt. Unterstütze dein Team dabei, indem du ihm hilfst eine Gesprächsreihenfolge festzulegen, die jeden zu Wort kommen lässt. Dies erreichst du, indem du eine Einladung an das Team aussprichst: „Nun stellen wir bitte reihum eine Idee nach der anderen vor. Erst mal nur eine Idee pro Sprecher.“
Tipp 6: Unterstütze dein Team, die Ideen auch zu dokumentieren
Menschen sind visuelle Wesen.
80 % der Informationen, die unser Gehirn aufnimmt, sind visuelle Reize. Diese Tatsache kannst du ausnutzen, indem dein Team beim Ideenaufschreiben farbige Stifte und Notizen verwendet und ihr eure Ideen nach dem Aufschreiben an die Wand hängt. Die Notizen müssen auch nicht nur Text sein. Ermutige dein Team auch kleine Skizzen anzufertigen. Diese helfen, den Text besser zu verstehen.
Tipp 7: Bessere Ideen entstehen durch viele Ideen
Beim Brainstorming entscheidet die Quantität und nicht Qualität.
Deshalb solltest du dein Team bitten, die Ideen schnell auf den Punkt zu bringen. Die Experten von „IDEO U“ geben als Richtwert an: „In einer 60-minütigen Sitzung solltest du versuchen, 100 Ideen zu entwickeln.“
Wenn du diese sieben Tipps beherzigst, dann sorgst du dafür, dass dein Team Brainstorming auch richtig umsetzt und die Vorteile von Brainstorming genießt.
Zum Schluss zeige ich dir noch, wie du eine Brainstorming-Session in der Sprint Retrospektive umsetzt:
Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie du Brainstorming in deiner Retrospektive einsetzen kannst
Am besten beginnst du die Brainstorming-Session so:
Schritt 1: Erkläre die Regeln einer Brainstorming-Session
Als Erstes solltest du noch mal die Regeln für die Brainstorming-Session kurz wiederholen. Dazu kannst du einfach aus den Tipps von oben Regeln ableiten.
Ich verwende hierzu diese Regeln:
- keine Bewertung
- Es gibt keine dummen Ideen
- jede Idee auf eine eigene Notiz
- zu jeder Ideen gerne ein Bildchen
- Es spricht immer nur eine Person
- Die Brainstorming-Session dauert maximal 30 Minuten und endet – auch früher –, wenn wir 50 Ideen gefunden haben.
Schritt 2: Formuliere eine Frage
Um mit dem Brainstorming zu beginnen, wähle eine konkrete Herausforderung oder ein Problem und formuliere dazu eine Frage. Angenommen die Herausforderung lautet: „Im Sprint gab es viele Fehler und Bugs“. Dann könnte die Frage lauten:
„Wie könnten wir dafür sorgen, dass es weniger Fehler und Bugs gibt?“
Schritt 3: Wechsle individuelles Brainstorming und Gruppen-Brainstorming ab
Beginn die Brainstorming-Session mit einer Runde individuelle Ideen aufschreiben. Diese sollte in Stille geschehen.
Dann bitte die Teammitglieder, ihre Ideen reihum vorzustellen und an die Wand zu kleben.
Dann startet die nächste Runde mit individuellen Ideen aufschreiben. Nun wieder vorstellen.
So wechselt sich individuelle Ideen aufschreiben und vorstellen immer ab. Schritt drei endet, wenn die 30 Minuten zu Ende sind oder 50 Ideen gesammelt wurden.
Dieser Ansatz wird als hybrides Brainstorming bezeichnet und ist sehr strukturiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass für ein Team, das zum ersten Mal brainstormt, diese strikte Struktur sehr hilfreich sein kann. Nach einigen Brainstorming-Sessions ist diese starre Struktur häufig nicht mehr nötig. Dann kann die Brainstorming-Session etwas unstrukturierter ablaufen. Ein Beispiel siehst du in diesem Video:
Wie geht es nach der Brainstorming-Session weiter?
Nach der Brainstorming-Session hat ein Team eine Vielzahl von Ideen generiert. Jetzt kann dein Team vom divergenten Denken zum konvergenten Denken wechseln. Dazu könnt ihr die Ideen clustern, mit Voting die beste Idee identifizieren und konkrete Schritte für deren Umsetzung ableiten.
Noch weitere Fragen zum Brainstorming?
Wenn du über die Artikel hinaus nach weiterer Unterstützung suchst, dann schreibe deine Frage in die Kommentare. Ich freue mich über deine Rückmeldung!