„Warum müssen wir unsere Arbeitsweise ändern? Ich bin Führungskraft in einem durchschnittlichen Unternehmen und nicht in einem Tech-Giganten im Silicon Valley.“
Das ist die mit Abstand häufigste Frage, die ich in meinem Professional Agile Leadership Training gestellt bekomme. Ich stimme den Teilnehmern zu, dass sie einige Zeit erfolgreich sind, wenn sie nicht wie Amazon alle 11,7 Sekunden eine neue Version ihres Produkts bereitstellen. Jedoch weise ich sie auch darauf hin, dass sie bei dieser Argumentation einem Irrglauben erliegen: Nicht die Mitbewerber entscheiden über Erfolg und Misserfolg eines Unternehmens, sondern die Kunden! Wenn Unternehmen weiterhin erfolgreich am Markt bestehen wollen, sollten sie sich also nicht an ihren Mitbewerbern orientieren, sondern an ihren Kunden.
Nicht die Konkurrenz verändert sich rasant, sondern das Verhalten der Kunden!
Auch wenn die meisten Unternehmen keinen Navigationsservice entwickeln, keine Bücher online anbieten, keine Informationen im Internet auffindbar machen und keine Social-Media-Plattform Plattform erfunden haben, verwenden ihre Kunden diese Services tagtäglich. Sie navigieren mit Google Maps, sie kaufen auf Amazon ein, sie suchen Informationen auf Google, sie tauschen sich mit ihren Freunden auf Facebook oder Instagram aus und all das auf ihrem Smartphone.
Diese Erfahrung erwarten die Kunden nun auch von allen anderen Produkten.
Die Kunden gehen davon aus, dass sie von jedem Ort nach Hause finden, Bücher mit einem Klick lesen können, immer Zugriff auf alle Informationen haben und ständig über Neuigkeiten ihrer Freunde unterrichtet werden. Wenn die Produkte eines Unternehmens dieser gesteigerten Nutzererwartung nicht gerecht werden, wird es unausweichlich ins Hintertreffen geraten. Da sich Facebook, Amazon, Netflix, Google, Apple und Co. immer schneller verändern, wird sich auch die Kundenerwartung rasanter verändern. Zu dieser Einsicht ist Bart Schlatmann, CIO der ING, schon 2015 gekommen: „Es gab keine besondere finanzielle Notwendigkeit [agile Arbeitsweisen einzuführen], das Unternehmen entwickelte sich gut und die Zinssätze lagen weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Allerdings änderte sich das Kundenverhalten immer rascher als Reaktion auf neue digitale Vertriebskanäle. Die Kundenerwartung wurde von digitalen Vorreitern aus anderen Branchen geprägt, nicht im Bankwesen.“ Mit dieser Einsicht realisierte die ING, dass sie „nicht mehr länger ein Finanzdienstleister war, sondern ein Technologiekonzern im Finanzsektor.“
Welche Rolle spielen Führungskräfte in diesem unausweichlichen Wandel aller Unternehmen?
Führungskräfte haben die Wahl.
Sie können entweder weiterhin versuchen, den Status quo mit Zentralisierung, Kontrolle und Standardisierung aufrechtzuerhalten oder sie fassen stetigen Wandel als Fortschritt auf. Diese zweite Art von Führungskraft begreift Veränderung als einen Wettbewerbsvorteil und nicht als ein notwendiges Übel. Für diese Führungskräfte bedeutet Agilität die Fähigkeit, den Kurs auf der Grundlage des Gelernten zu ändern. Um somit immer wieder aufs Neue ihre Kunden zu begeistern.
Diese zweite Art von Führungskraft bezeichnen wir als Agile Führungskraft.
Dadurch, dass Agile Führungskräfte ihre Entscheidungen im Einklang mit dem Manifest für Agile Softwareentwicklung treffen, helfen sie ihren Teams bessere Wege zu finden, um Produkte anzubieten, die Kunden begeistern.
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
Agile Führungskräfte stellen die Menschen an die erste Stelle.
Sie schließen aus „Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge“ nicht, dass „Prozess und Werkzeuge wichtig sind“, sondern sie haben verstanden, dass der Mensch immer zuerst kommt. Erst an zweiter Stelle folgen Prozesse und erst dann die Tools. Alles, was Agile Führungskräfte tun, fördert den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Menschen. Das gilt nicht nur für ihr Handeln, sondern auch für jeden Prozess und jedes Tool, welches sie im Unternehmen einführen.
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Agile Führungskräfte fokussieren sich auf den Mehrwert für die Nutzer.
Dokumentation ist wichtig. Allerdings nur die, die hilft, ein funktionierendes Produkt zu pflegen. Agile Führungskräfte haben verstanden, dass dies der einzige Zweck von Dokumentation sein kann. Dokumentation dient ausschließlich dazu, die Entwicklung und Nutzung des Produkts zu supporten. Dokumentation sollte niemals eine Hürde darstellen, die Produktteams nehmen müssen, bevor sie den Kunden mit der Lösung eines Problems helfen können.
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
Agile Führungskräfte schließen Verträge, die die Zusammenarbeit mit Kunden zum Ziel haben.
Agile Führungskräfte weisen ihre Teams nicht an, nur etwas zu entwickeln, weil es der Vertrag so vorschreibt. Stattdessen helfen sie, Verträge zu erstellen, die ihre Teams dazu befähigen, Produkte zu entwickeln, die echte Probleme der Anwender lösen. Diese Verträge stellen Zusammenarbeit mit den Kunden an die höchste Stelle und sind darauf ausgerichtet, den meisten Mehrwert für die Nutzer zu schaffen.
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans
Agile Führungskräfte verstehen Veränderung als Chance, die Entwicklung besserer Produkte zu planen.
Der Plan ist für Agile Führungskräfte nie das Ziel, sondern eine Notwendigkeit, nach einer Marktveränderung neue Wege zu finden, um weiterhin ihren Nutzern zu dienen. Diese Wege haben immer das Ziel, die Probleme der Kunden noch effektiver zu lösen. Sie haben verstanden, dass sich „Planen“ und „Plan“ zwar nur in zwei Buchstaben unterscheiden, diese Unterscheidung aber verschiedene Unternehmenskulturen hervorbringt.
Wie helfen Agile Führungskräfte ihrem Unternehmen?
Bessere Wege zu gehen heißt, sich für das Lernen zu öffnen.
Drei Bereiche sind für Agile Führungskräfte von entscheidender Bedeutung, wenn Unternehmen langfristig eine Kultur etablieren wollen, die vom Lernen geprägt ist.
Agile Führungskräfte unterstützen ihre Mitarbeiter dabei, sich weiterzuentwickeln
Wir leben nicht mehr im Industriezeitalter, sondern im digitalen Zeitalter.
Unternehmen, die im digitalen Zeitalter bestehen wollen, brauchen Mitarbeiter, denen es nicht an Neugier und Vorstellungskraft fehlt. Lebenslanges Lernen ist die Grundvoraussetzung dafür. Die Vorstellung, dass Menschen nach der Schule, dem Studium und dem erfolgreichen Durchlaufen eines Trainee-Programms nicht weiterlernen müssen und ihre Arbeit bis zur Rente erfolgreich erledigen können, wurde mit dem Eintritt in das digitale Zeitalter begraben. Agile Führungskräfte haben verstanden, dass Lernen und Weiterbildung einen großen Teil der Arbeitszeit jedes Mitarbeiters ausmachen wird und dass sich Unternehmen in Zukunft als Lerngemeinschaften sehen werden. Lernen wird zum Wettbewerbsvorteil, denn das Unternehmen, welches schneller lernen kann, wird schneller seine Kunden begeistern können. Ein Beispiel hierfür ist Colenet. Als ich 2019 zu dem Unternehmen kam, waren wir 13 Mitarbeiter, heute habe ich 24 Kolleginnen und Kollegen. Mit dem Unternehmensgewinn verhält es sich genauso. Aus meiner Sicht ist der wichtigste Faktor für diesen Erfolg, dass die Agilen Führungskräfte dort ein Unternehmen aufbauen, in dem Lernen tief in der DNA verwurzelt ist. Eine vorgegebene Anzahl an Schulungstagen oder ein Schulungsbudget gibt es nicht. Jeder Mitarbeiter kann so viel lernen, wie er möchte. Wöchentliche Open Spaces und 6 Firmen-Retreats pro Jahr sind nur weitere Beispiele, wie bei Colenet eine Gemeinschaft geschaffen wurde, das lebenslange Weiterentwicklung ins Zentrum rückt.
Agile Führungskräfte übernehmen die Verantwortung, dass sich Unternehmen in Zukunft als Lerngemeinschaften begreifen.
Agile Führungskräfte bauen Produktteams auf
Erfolgreiche Unternehmen begreifen ihre Produkte als Lernlabore.
Vor zwanzig Jahren lag die monatliche Kündigungsrate bei Netflix bei etwa 10 %. Als Gibson Biddle (ehemaliger VP) 2005 zu Netflix kam, kündigten etwa 4,5 % ihr monatliches Abo. Heute liegt die Rate bei 2 %. Durch konsequentes Aufstellen von Hypothesen, was Kunden begeistern könnte, das Testen dieser Hypothesen und das Überprüfen, ob sich die Kundenbindung dadurch verbessert, hat sich Netflix über die Jahre von einem DVD-Versand-Start-up zu einem Powerhouse für Original-Inhalte entwickelt. Der Erfolg beruht darauf, dass Netflix sein Produkt nicht als Gelddruckmaschine begreift, sondern als ein System, um Verbraucherforschung zu betreiben.
Agile Führungskräfte schaffen ein Umfeld, in dem Teams Produkte erschaffen, die dem Unternehmen stets helfen, neues über die Vorlieben und Probleme der Kunden zu lernen.
Agile Führungskräfte helfen ihren Mitarbeitern, Verantwortung zu übernehmen
Um Produkte erfolgreich zu entwickeln, benötigt es eine Vielzahl von Fähigkeiten im Team.
Als CEO von Scrum.org steht Dave West mit vielen erfolgreichen Produktorganisationen im Austausch. Ein Trend, welchen er dabei beobachtet, ist, dass folgende Rollen in der Vergangenheit an Einfluss gewonnen haben:
Agiler Coach
Ein Agiler Coach ist keine Rolle in einer Transformation.
Unternehmen können sich nicht in die Agilität transformieren, da Agilität keinen Endzustand hat. Stattdessen benötigen Unternehmen Menschen, die andere befähigen. Scrum Master sind eine Möglichkeit dafür und Professional Coaching eine andere. Erfolgreiche Produktteams haben Menschen, die ihre Arbeitszeit investieren, um das Team dabei zu unterstützen, effektiver zusammenzuarbeiten.
Entwickler
Produktteams leben von ihren Entwicklern.
Das sich rasant verändernde Kundenverhalten führt dazu, dass die Lösung der meisten Probleme sehr komplex ist. Um diese Probleme zu verstehen, benötigen Entwickler ein Generalisten-Mindset. Um diese Probleme effizient zu lösen, müssen Entwickler Fachexperten sein. Ein Team, indem jeder Entwickler fachliche Expertise und das Generalisten-Mindset vereint, ist die effizienteste Art und Weise Produkte zu entwickeln. In diesen Teams muss die Arbeit von einer Idee bis zur Auslieferung nicht aus der Hand gelegt werden. Diese Experten als Entwickler zu bezeichnen, dient der Vereinfachung und ist keine Abwertung. Im Gegenteil, diese Menschen sind Creator, welche sich dazu verpflichten, den Kunden eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Product Owner
Product Leadership macht Produktteams aus.
Die Verantwortung, Wert zu liefern und dabei die finanziellen Verluste und Gewinne zu managen, macht erfolgreiche Product Owner aus. Um Kunden zu begeistern, müssen technisches Produktmanagement und Business Management vereint werden. Wenn sich technologischer Weitblick und Marktgespür in der Rolle des Product Owners vereinen, ist dies eine Grundlage für Innovation.
Agile Führungskräfte helfen ihren Teams, diese Rollen zu füllen, für diese Rollen Verantwortung zu übernehmen und sich darin weiterzuentwickeln.
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Hoffentlich war dieser Artikel nützlich für Dich. Wie man mit den Agilen Werten führt, ist eines der vielen interessanten Themen, die in meinen Professional Scrum Trainings behandelt werden.
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