In der „agilen Community“ wird immer davon gesprochen, „aus Fehlern zu lernen“.
Aber seien wir mal ehrlich: Niemand macht gerne Fehler.
Es ist doch viel angenehmer, aus den Fehlern der anderen zu lernen.
Ich führe seit 10 Jahren Retrospektiven durch und leite auch andere Scrum Master dabei an. Einige Fehler passieren dabei immer und immer wieder. Sie wiederholen sich. Diese Fehler nennen wir „Antipatterns“.
Wenn du diese Antipatterns nicht selbst begehen möchtest, hier meine Top 5:
Antipattern #1: Die Retrospektive entfällt
Dies ist mit Abstand das schlimmste Antipattern.
Der Erfolg von Produktentwicklung fußt auf kontinuierlicher Verbesserung. Chris Argyris, der renommierte Professor in Yale und Vater des organisatorischen Lernens, bringt es auf den Punkt:
„Der Erfolg auf dem Markt hängt zunehmend vom Lernen ab, aber die meisten Menschen wissen nicht, wie sie lernen sollen.“
Scrum ermöglicht das „Lernen“, von dem Chris Argyris spricht. Der Scrum Guide bezeichnet es als Verbesserung. Verbesserung am Produkt, um Kunden zufriedener zu machen und damit den Wert des Produkts zu steigern. Aber auch Verbesserung der Zusammenarbeit im Team, der Prozesse und der Art und Weise, wie das Team das Produkt entwickelt. Dies sollte mindestens einmal im Sprint passieren. In der Retrospektive. In der Retrospektive lernt das Scrum Team zu lernen. Für viele Teams, die neu in Scrum sind, entspricht die Retrospektive quasi den Stützrädern beim Fahrradfahren. Findet die Retrospektive nicht statt, wird das Team der Erfahrung des Rollens beraubt.
Die wichtigste Aufgabe eines Scrum Masters ist es, dies zu verhindern. Dabei muss es nicht immer so formal sein, wie der Scrum Guide es empfiehlt:
„Die Sprint-Retrospektive schließt den Sprint ab.“
Manchmal reicht ein kurzes „Was lief gut, was lief schlecht und was wollen wir im nächsten Sprint besser machen?“.
Manchmal finden Retrospektiven zwar statt, aber die Gespräche plätschern vor sich hin oder drehen sich im Kreis. Was uns zum nächsten Antipattern bringt:
Antipattern #2: Die Retrospektive ist ziellos
Wir bezeichnen Retrospektiven in Scrum oft einfach als Retrospektiven.
Ich nehme mich da nicht aus. Aber das ist ungenau. Sie heißt Sprint-Retrospektive. Viele denken, das mache doch keinen Unterschied. Ich denke, sie irren sich. Der Zusatz „Sprint“ deutet auf einen wichtigen Aspekt der Retrospektive hin. Es geht um den Sprint und nur um diesen. Es ist keine Projekt-Retrospektive, keine „Lessons Learned“ oder „Weekly Sure Fix“ gemeint. Ein Sprint steht im Fokus. Und somit hat die Sprint-Retrospektive ein klares Ziel, anders als eine beliebige Retrospektive.
Der Scrum Guide schreibt dazu:
„Das Scrum Team bespricht, was während des Sprints gut gelaufen ist, auf welche Probleme es gestoßen ist und wie diese Probleme gelöst wurden (oder auch nicht).“
Und dann wird weiter festgehalten:
„Das Scrum Team identifiziert die hilfreichsten Änderungen, um seine Effektivität zu verbessern.“
Kurz gesagt: Das Scrum Team überprüft diesen Sprint mit dem Ziel, Verbesserungen zur Steigerung der Effektivität für den nächsten Sprint zu formulieren. Drehen sich die Diskussionen im Kreis oder verlaufen sie gar ganz im Sande, dann solltest du dein Team an dieses Ziel erinnern. Alles, was nicht unmittelbar darauf einzahlt, sollte wann anders besprochen werden.
Von diesem Antipattern gibt es noch einen Sonderfall:
Antipattern #3: Die Retrospektive dauert ewig
Dass Retrospektiven ewig dauern, kann ein Symptom des „Kein Ziel“-Antipatterns sein.
Wenn wir nicht wissen, wohin die Reise gehen soll, können wir auch nicht schnellstmöglich dorthin gelangen. Es kann aber auch noch andere Ursachen haben:
- Einige Teammitglieder diskutieren ewig. Andere kommen gar nicht zu Wort.
- Das Team wälzt nur Probleme und richtet seinen Blick nicht nach vorne auf mögliche Lösungen.
- Es gibt Herausforderungen, aber keine Einigung wird erzielt, wie diese zu lösen sind.
Wie lassen sich diese Probleme beheben? Wie können Scrum Master dafür sorgen, dass die Retrospektive produktiv und innerhalb der Timebox abgeschlossen wird?
Nach hunderten von Retrospektiven, die ich selbst geleitet habe und in denen ich andere Scrum Master angeleitet habe, lautet die bittere Wahrheit:
Durch bessere Facilitation.
Reicht die Zeit der Retrospektive nicht aus, liegt es in neun von zehn Fällen einfach daran, dass die Zeit nicht gut genutzt wurde. So zumindest meine Erfahrung. Und versteh mich nicht falsch, ich behaupte nicht, dass jeder die Fähigkeit dazu mitbringt. Es braucht viele Jahre Übung, um gut zu facilitieren. Die gute Nachricht:
Es lässt sich erlernen.
Entweder durch Selbstausprobieren und viel Reflexion oder du nimmst eine Abkürzung und besuchst einen Kurs dafür. Zum Beispiel das „Professional Scrum Facilitation“-Skills Training von Marc und mir bietet hierzu eine gute Abkürzung.
Die Retrospektive findet statt – innerhalb der Zeit – und verfolgt ein klares Ziel, was kann dann noch schiefgehen?
Antipattern #4: Die Retrospektive bleibt ergebnislos
Warum ist das ein Problem?
Wahrscheinlich hätte ich dieses Antipattern an die zweite Stelle setzen sollen, da ich die Auswirkung fast genauso schlimm finde, wie wenn eine Retrospektive gar nicht stattfindet.
Retrospektiven, die keine Verbesserung bringen, verspielen das Vertrauen.
Das Vertrauen der Teammitglieder in Scrum. Mehr noch: Das Vertrauen in deine Fähigkeiten als Scrum Master.
Scrum ist weniger ein Prozess. Es geht mehr ums Verhalten. An diese Tatsache sollen uns die Scrum Werte erinnern. Besonders der Scrum Wert „Commitment“ hilft, Vertrauen zu fördern. Vertrauen der Kunden in das Team, da es regelmäßig liefert. Vertrauen des Managements in das Team, da es die Ziele des Unternehmens ernst nimmt. Aber auch Vertrauen der Teammitglieder darauf, dass Scrum „funktioniert“. Dass Scrum ihnen hilft, ihre Probleme zu lösen. Und eine Retrospektive ohne konkrete Verbesserungen oder ohne, dass Verbesserungen auch umgesetzt werden, verspielt das Vertrauen im Team. Scrum verkommt nur zu einem weiteren Prozess, der die tägliche Arbeit kompliziert macht.
Lass es nicht so weit kommen. Hilf deinem Team, mindestens eine, und sei es noch so eine kleine, Verbesserung zu finden und diese umzusetzen.
Manchmal stößt du dabei auf dieses Problem:
Antipattern #5: In der Retrospektive gibt es nichts zu verbessern
Diesen Satz habe ich bestimmt schon 100 Mal gehört:
„Es gibt nichts zu verbessern.“
Lange Zeit war ich ratlos. Wie sollte ich darauf reagieren? „Nichts zu verbessern? Sowas kann es doch nicht geben“, dachte ich mir. Aber ich wusste keine Möglichkeit, wie ich es dem Team begreiflich machen sollte. Seit einigen Jahren kenne ich eine.
Ich verrate dir meinen Geheimtipp:
Du kennst bestimmt Methoden wie „Magic Estimation“ oder „Planning Poker“. Diese Methoden fußen alle auf dem Prinzip, Elemente anzuordnen. Lass uns dieses Prinzip etwas verschärfen. Dann muss ein Element immer nur größer oder kleiner als die anderen Elemente sein. Jetzt kennst du meinen Geheimtipp.
Wie kannst du ihn in der Retrospektive nutzen?
Bitte die Mitglieder des Teams, die nichts verbessern können, alle Dinge zu nennen, welche perfekt laufen. Dann erhältst du eine Liste. Nun lass die Liste danach ordnen, was mit Abstand am besten lief. Auf natürliche Weise gibt es jetzt Elemente, die nicht so perfekt sind wie die anderen. Voilà:
Damit hast du Potenzial zur Verbesserung aufgedeckt.
Bonus-Antipattern: Das Scrum Team hat keinen Einfluss
Manchmal müssen wir uns damit abfinden, dass Dinge so sind, wie sie sind. Meistens haben wir jedoch mehr Einfluss, als wir denken.
Der Professor und Autor Stephen R. Covey beschreibt diese Erkenntnis in seinem Buch „Die 7 Wege zur Effektivität“ mit seinem „Cycle of Influence“-Modell. Lass mich dir kurz sein Modell zusammenfassen und dann erkläre ich dir, wie du es als Format für deine nächste Retrospektive nutzen kannst.
Das Modell im Überblick: Es besteht aus drei ineinander liegenden Kreisen.
- Kreis der Kontrolle: In diesem Bereich liegen alle Dinge und Themen, über die wir selbst entscheiden und auf die wir mit unseren Handlungen direkt Einfluss nehmen können. Wir haben hier die volle Kontrolle.
- Kreis des Einflusses: Hier können wir über viele Dinge, die uns beschäftigen, nicht direkt selbst entscheiden. Aber wir haben in diesem Bereich dennoch die Möglichkeit, durch unsere Handlungen Einfluss auf die Zustände zu nehmen.
- Kreis der Bedenken: Hierin befinden sich Themen, die uns zwar bewegen, die sich aber außerhalb unseres Einflussbereichs befinden. Genau diese sind emotional oft am schwersten anzuerkennen, weil wir uns ihnen gegenüber ohnmächtig fühlen. Dieser Kreis könnte somit auch der „Kreis der Sorgen“ heißen.
Wie kannst du Stephen R. Coveys Erkenntnis in deiner Retrospektive nutzen?
Auch wenn dein Team das Gefühl hat, es könne eh nichts ändern, hilft diese Visualisierung häufig, um doch noch Bereiche zu erkennen, in denen etwas verändert werden kann. Es geht nicht darum, Dinge außerhalb der Kontrolle direkt unter die Kontrolle des Teams zu bringen. Stattdessen solltest du die Mitglieder des Teams fragen, welche Aspekte oder Teile davon wir vielleicht etwas beeinflussen könnten.