„Simon, dass du dich das traust!“
So wurde ich nach einem Workshop von einem Kollegen angesprochen.
„Was meinst du?“, fragte ich.
„Naja, dass du unseren Geschäftsführer mitten im Satz unterbrichst.“
Lange Zeit habe ich mich das auch nicht „getraut“. Und damit bin ich nicht allein. Im letzten Einzelcoaching schilderte mir eine Scrum Masterin, dass es ihr sehr schwerfalle, Personen im Meeting zu unterbrechen. Je länger sie sprechen, desto größer wird ihre Hemmung. Vor vielen Jahren erhielt ich einen Rat, der mir half, den Mut zu fassen, Personen zu unterbrechen. Im Coaching reichte ich diesen Rat weiter.
Er lautet:
Tipp #1: Unterbreche, um die anderen Personen zu schützen
Um diesen Tipp besser zu verstehen, müssen wir zu meiner Anfangszeit als Scrum Master zurückreisen.
Damals sprach eine Person in Team-Meetings endlos. Niemandem blieb es verborgen. Julia hob die Hand, als sich eine Verschnaufpause des Sprechers andeutete. Stefan versuchte es mit einem zaghaften „Aber ...“. Und Thomas hatte bereits die Geduld verloren und klappte sein Notebook auf. Mir gingen nur diese Gedanken durch den Kopf: „Ich bin neu im Team, wie kann ich mir das Recht herausnehmen, jemanden, der schon lange dabei ist, direkt zu unterbrechen? Unhöflicher geht es wohl nicht. Aber es ist doch meine Aufgabe. Was denkt wohl Thomas über meinen Wert für unser Team?“ Diese Gedanken machte ich mir noch weitere Jahre. Immer mit dem gleichen Resultat:
Ich dachte, aber ich handelte nicht.
Bis ich diesen Satz hörte:
„Simon, hier musst du unterbrechen. Du darfst ihn auf keinen Fall weitersprechen lassen.“
Mit diesen Worten unterbrach der Trainer in meiner GFK-Ausbildung meine ersten Mediationsversuche. Er erklärte mir weiter: „Manchmal müssen wir Macht zum Schutz von Anderen ausüben.“
Da machte es klick.
Bisher hatte ich Unterbrechen immer als unhöflich gegenüber dem Sprecher erachtet. Mein Augenmerk galt dem Sprecher und unser beider Gefühle. Wie fühlt er sich, wenn ich ihn unterbreche? Was denkt er von mir, wenn ich ihn unterbreche? Dadurch habe ich aber die anderen Personen im Meeting ganz aus den Augen verloren. Wie fühlen sie sich, wenn sie nicht zu Wort kommen? Wie geht es ihnen, wenn das Ziel des Meetings nicht erreicht wird, weil eine Person alle Gespräche dominiert?
Seither sehe ich es so:
Als Facilitator vertreten wir den Prozess. Unterbrechen ist nichts Persönliches, sondern soll der Erreichung des Ziels des Teams dienen. Jeder im Team sollte dazu beitragen. Oder zumindest die Chance dazu haben.
Wie können wir dies im Meeting wertschätzend zum Ausdruck bringen?
Tipp #2: Nutze mein erprobtes Vorgehen beim Unterbrechen
Hierfür habe ich mir über die Jahre ein Vorgehen zurechtgelegt.
Es besteht aus vier Schritten:
- Hand heben und Namen sagen
- Beobachtung teilen
- aufrichtig den inneren Konflikt ansprechen
- um Hilfe bitten
Hier die Schritte im Detail:
Hand heben und Namen sagen:
Wenn du jemanden unterbrichst, dann mache es nicht zaghaft oder halbherzig. Ein Pflaster reißt du auch mit einem Ratsch ab.
Hebe die Hand, hebe die Stimme, nenne den Namen des Sprechers und schaue der sprechenden Person in die Augen. Dann sage:
„Stopp, Jacqueline. Lass mich dich kurz unterbrechen. Du darfst gleich weitersprechen.“
Warum nenne ich den Sprecher beim Namen? Wir sind es gewohnt, auf unseren Namen zu hören. Nutze diesen Effekt. Warum sage ich „kurz“ und „weitersprechen“? Dies soll dem Sprecher die Angst nehmen, dass er seinen wichtigen Punkt vielleicht nicht mehr machen kann.
Beobachtung teilen:
Hüte dich vor Kritik, sondern teile deine Beobachtung.
Sage zum Beispiel:
- „Wir diskutieren diesen Punkt auf der Agenda jetzt bereits seit 10 Minuten.“
- „Es haben sich drei von sieben Leuten im Team dazu geäußert.“
- „Die Uhr hat bereits vor einer Minute geläutet und wir wollten uns dafür nur 5 Minuten Zeit nehmen.“
Da Beobachtungen unstrittig sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Sprecher persönlich angegriffen fühlt und sich verteidigen möchte.
Jetzt sei ehrlich:
Aufrichtig den inneren Konflikt ansprechen
Hüte dich weiterhin vor Belehrungen, sondern benenne deinen inneren Konflikt. Du schaffst das indem du alle Formulierung aus der Ich-Perspektive sprichst und dadurch niemandem zu nahe trittst.
Sage etwa:
- „Deshalb bin ich etwas besorgt, dass wir dann nicht mehr alle 5 Punkte auf der Agenda ansprechen können.“
- „Ihr hattet mich vor dem Meeting gebeten, dafür zu sorgen, dass jeder zu Wort kommt. Im Moment gelingt mir das nicht.“
- „In der letzten Retrospektive hatten wir uns darauf geeinigt: Meine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass wir das Ziel des Termins nicht aus den Augen verlieren. Da nur noch 10 Minuten verbleiben, mache ich mir Sorgen, dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden.“
Nun wende dich an das Team:
Um Hilfe bitten
Jetzt hast du eine Wahl:
- Du kannst vorgeben, wie es weitergeht, indem du sagst: „Widmen wir uns nun dem nächsten Punkt auf der Agenda.“
- Du kannst eine Bitte äußern: „Bitte lasst uns deshalb jetzt zum nächsten Punkt auf der Agenda kommen.“
- Oder du kannst die Entscheidung an das Team geben, indem du sagst: „Wie wollen wir weitermachen?“
Aus meiner Erfahrung ist die letzte Möglichkeit die beste, allerdings auch die unintuitivste. Sind wir nicht als Facilitator für den Prozess verantwortlich? Ja, aber der Prozess soll dem Team dienen. Und eine aufrichtige Bitte oder Frage dient dem Team häufig mehr. Du ermöglichst damit, dass das Team Verantwortung übernimmt. Und keine Panik: In 7 von 10 Fällen werde ich nach der Frage gebeten, eine Technik zur Moderation vorzuschlagen. Das Team wünscht sich Hilfe, um zum Ziel zu kommen und gleichzeitig jedem das Wort zu geben. Jetzt kann ich mein Wissen und meine Erfahrung als Facilitator wieder einbringen.
Nun kennst du mein Vorgehen. Bleibt noch, es anzuwenden ...
Tipp #3: Mache es zur Gewohnheit
Wenn du dir jetzt denkst:
Beobachtung teilen, inneren Konflikt nennen und um Hilfe bitten, klingt einleuchtend. Aber in einer hitzigen Diskussion schaffe ich das trotzdem nicht.
Dann verstehe ich dich. Mir geht es ähnlich.
Viele Sachen klingen in der Theorie sehr hilfreich, helfen aber nichts, wenn ich sie nicht praktisch umsetzen kann. Im Moment versuche ich mir etwa abzugewöhnen, zu fragen: „Gibt es noch Fragen?“ Wenn ich im Online-Training diese Frage stelle, bekomme ich darauf keine Antwort. Trotzdem stelle ich diese binäre Frage jedes Mal aufs Neue, nachdem ich eine Übung erklärt habe. Zum Mäusemelken.
In einer solchen Situation sage ich mir deshalb immer:
„Ich schaffe es noch nicht“, statt: „Ich schaffe es nicht.“ Für mich macht das kleine Wörtchen noch einen großen Unterschied. Es schützt mich vor meinem inneren Kritiker, lässt mich aber auch das Potenzial zur Verbesserung nicht vergessen.
Neben der „Umformulierung“ nutze ich auch diese Technik:
Nach jedem Meeting, jeder Retrospektive, jedem Training oder Workshop stelle ich mir diese beiden Fragen:
- Welche drei Dinge liefen heute gut?
- Welche drei Sachen würde ich beim nächsten Mal anders machen?
Das hilft mir, ein gesundes Verhältnis zwischen Ambitionen und Erfolgen zu behalten. Wenn ich immer wieder an das gleiche Verbesserungspotenzial erinnert werde, dann gelingt es mir auch irgendwann, es umzusetzen. So meine Hoffnung.
Getreu dem Motto: Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.
Aber ich will ehrlich mit dir sein: Neue Gewohnheiten zu verankern, ist hart.
Wenn du Tipps dafür hast, dann schreibe sie in die Kommentare. Ich wäre dir sehr dankbar.