Skip to main content

Meine Top 3 Liberating Structures: Triff im Nu Entscheidungen, die jeder im Scrum Team mitträgt – ohne endlose Diskussionen

August 12, 2024

Mein erster Kontakt mit Liberating Structures war im Jahr 2016, als ich das Buch von Henri Lipmanowicz und Keith McCandless darüber las.

Was soll ich sagen? Nach dem Lesen des Buchs ist der Funke nicht übergesprungen. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie ich diese Strukturen in meinem Team einsetzen könnte. Dies änderte sich erst zwei Jahre später, als ich in Amsterdam einen Workshop dazu besuchte. Nachdem ich die Regeln selbst erlebt hatte, hatte ich ein klareres Bild davon, wie sie funktionieren, und vor allem, was sie ermöglichen. Dennoch verließ ich den Workshop mit einer offenen Frage:

Wie lassen sich die Strukturen in meinem Scrum Team nutzen?

Da ich online dazu nichts lesen konnte, versuchte ich selbst, eine Antwort zu finden. Die erste Liberating Structure, die ich in einem Scrum Team einsetzte, war 1-2-4-All. Als die halbwegs klappte, wurde ich mutiger und tastete mich schrittweise auch an andere Strukturen heran. Beim Ausprobieren machte ich mir Anmerkungen dazu, was gut funktioniert hatte und was ich besser machen konnte.

Als ich gestern meinen Schrank durchwühlte, stolperte ich über mein Notizbuch mit den Anmerkungen von damals. Beim Durchblättern fiel mir auf, dass ich drei Strukturen immer wieder nutze.

Und diese möchte ich dir heute vorstellen. Außerdem werde ich dir Tipps geben, wie du sie in den Scrum Events gut einsetzen kannst.

Beginnen wir mit besagtem 1-2-4-All:

Liberating Structure 1: 1-2-4-All

Was macht Liberating Structures so besonders?

Vereinfacht gesagt handelt es sich um Facilitation-Techniken, die alle eines gemeinsam haben: Sie ermöglichen es allen Personen, am Finden von Ideen, Erstellen von Vorschlägen und Treffen von Entscheidungen teilzuhaben. Das Ziel ist es, produktive Interaktionen in Gruppen zu ermöglichen.

Und keine Struktur verkörpert dieses Konzept mehr als 1-2-4-All.

Dabei beginnt jede Struktur mit einer Einladung an die Teammitglieder und konkreten Schritten, wie sie dieser Einladung folgen können. Schauen wir uns das am Beispiel von 1-2-4-All im Detail an.

Hier die Schritte:

  1. Individuelle Reflexion (1 Minute): Jeder nimmt sich eine Minute Zeit, um über die Frage oder das Thema nachzudenken, um das es geht. Das Nachdenken geschieht dabei in Stille. Dies ermöglicht es dem Einzelnen, seine Gedanken ohne äußere Einflüsse zu sammeln.
  2. Austausch in Paaren (2 Minuten): Die Teilnehmer der Gruppe bilden Paare, um sich gegenseitig ihre Erkenntnisse mitzuteilen. So wird ein sicherer Raum geschaffen, in dem jeder seine Ideen äußern kann.
  3. Austausch in Quartetten (4 Minuten): Die Paare schließen sich nun zu Vierergruppen zusammen, in denen sie ihre Ideen weiter diskutieren und verfeinern.
  4. Die gesamte Gruppe kommt zusammen (etwa 5 Minuten): Jedes Quartett teilt seine wichtigsten Erkenntnisse und Entdeckungen, die sich aus der Diskussion ergeben haben, der ganzen Gruppe mit.

In welchen Scrum Events kannst du 1-2-4-All nutzen?

  • Sprint Planning: Im Sprint Planning lässt sich 1-2-4-All gut zur Entscheidungsfindung nutzen. Wenn sich das Team auf ein Sprint-Ziel einigen muss und der Product Owner Input von jedem im Team haben möchte, bevor er eine finale Entscheidung trifft. Formuliere dazu eine dieser Einladungen an das Scrum Team: „Was sollte nach diesem Sprint für die Nutzer unseres Produkts möglich sein?“, „Wenn wir nur eine Sache in diesem Sprint umsetzen könnten, welche wäre es und warum?“ oder „Wenn dies unser letzter Sprint ist, was sollten wir unbedingt noch angehen?“
  • Daily Scrum: Nutze 1-2-4-All im Daily Scrum, um den Arbeitstag einzustimmen. Definiert einen Plan für die nächsten 24 Stunden, wie ihr als Team dem Sprint-Ziel einen Schritt näherkommen wollt. Verwende dazu die Fragen: „Was wäre das beste Resultat, das wir heute erreichen können, um dem Sprint-Ziel näher zu kommen?“ Die Einsichten, die aus den Vierergruppen generiert werden, bilden die To-do-Einträge für den heutigen Tag.
  • Product-Backlog-Refinement: Nutze 1-2-4-All im Product-Backlog-Refinement, um Lösungsideen für Anforderungen zu brainstormen. Dabei führt 1-2-4-All zunächst zu einer Flut von Ideen. Es kommt zu vielen Überlegungen, wie die Implementierung des Features angegangen werden könnte. Im nächsten Schritt könnt ihr als Team dann die praktikabelsten Lösungen auswählen und im Product-Backlog-Eintrag festhalten. Verwende dazu diese Einladung zum Brainstorming: „Mit dem, was wir bis jetzt über die Anforderungen wissen, – wie könnte dazu eine mögliche Lösung aussehen? Was gilt es bei der technischen Umsetzung zu beachten?“

Neben 1-2-4-All gibt es noch eine weitere sehr einfache Liberating Structure und die verrate ich dir jetzt:

Liberating Structure 2: Impromptu Networking

In Scrum Teams kann es schwierig sein, ein Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit zu schaffen. Dies gilt besonders für Teams, die online zusammenarbeiten.

Die Lösung: Impromptu Networking

Spontanes Netzwerken ist wie Speeddating für Ideen. Hierbei beschränken wir uns aber nicht nur auf den sozialen Aspekt, sondern auch auf den Austausch von Fragen, Herausforderungen, Ideen und Erwartungen.

Hier die Schritte von Impromptu Networking:

  1. Vorstellung der Frage: Die Frage bleibt in allen drei Runden dieselbe, sodass jeder Beteiligte seine initialen Gedanken verfeinern kann.
  2. Austausch in Paaren: Die Teilnehmer der Gruppe bilden Paare und diskutieren die Frage. Dafür haben die Paare etwa 5 Minuten Zeit. Das ist Runde eins.
  3. Drei Runden durchführen: Nach jeder Runde bilden die Teilnehmer der Gruppe neue Paare und diskutieren die Frage erneut. Es werden insgesamt drei Runden durchgeführt. Am Ende hat sich also jeder Teilnehmer mit drei anderen Personen zur selben Frage ausgetauscht.

In welchen Scrum Events kannst du Impromptu Networking nutzen?

  • Sprint Review: Im Sprint Review lässt sich Impromptu Networking gut zum „Eisbrechen“ nutzen. Es ermöglicht, dass die Stakeholder sofort mit den Mitgliedern des Scrum Teams ins Gespräch und in den Austausch kommen. Damit wird von Beginn an der Sprint Review zu einer kollaborativen Arbeitssitzung. Die Einladung hierfür: „Wie hast du den letzten Sprint erlebt und was sind deine Erwartungen für das Sprint Review?“ Ein kleiner Kniff: Willst du gezielt den Austausch zwischen Stakeholdern und dem Scrum Team fördern? Dann bitte darum, dass die Mitglieder des Teams untereinander keine Paare bilden.
  • Sprint Retrospektive: Nutze Impromptu Networking in der Sprint Retrospektive zum Ankommen in der Check-in-Phase oder beim Sammeln von Daten zum Sprint. Die Struktur ermöglicht es dir somit, gleich zu Beginn Feedback über diesen Sprint einzuholen. Einige Einladungen hierfür: „Etwas, was diesen Sprint wirklich gut funktioniert hat, war ...“, „Worauf bist du diesen Sprint besonders stolz?“ oder „Welchem Teammitglied bist du zu besonderem Dank verpflichtet, weil es dir in diesem Sprint besonders geholfen hat?“

Für Teams, die online zusammenarbeiten, hat sich Impromptu Networking zu Beginn jedes Events oder Meetings bewährt. Es ist der beste Ersatz, den ich kenne. Es ähnelt dem „Water Cooler Chat“ oder dem Tratsch in der Kaffeeküche. Teams haben diesen Austausch natürlich, wenn sie alle im selben Büro sind.

Liberating Structure 3: 15-%-Lösung

Wenn in China ein Fahrrad umfällt, wird dann das Wetter in München schlecht?

Wahrscheinlich nicht. Aber können wir es wirklich definitiv verneinen? Teams und Unternehmen sind soziale Systeme. Diese zeichnen sich, ähnlich wie das Wetter, dadurch aus, dass wir nicht alle Phänomene vorhersehen können.

Die Suche nach einer 100-%-igen Lösung kann Machtlosigkeit und Frustration auslösen. Es gibt zu viele – teilweise im Konflikt miteinander stehende – Bedürfnisse und Dinge, die wir miteinbeziehen müssten. Das Resultat? Wir fangen erst gar nicht an und somit bleibt jeglicher Fortschritt zwangsläufig aus.

Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen auf das konzentrieren, was wir jetzt schon tun können? Anstatt auf die perfekte Lösung oder eine umfassende Überarbeitung zu warten.

Es geht nicht darum, eine 100-%-ige Lösung zu finden, sondern nur um die ersten 15 % davon. Dies nennen wir eine 15-%-Lösung. Es geht darum, machbare Schritte zu finden. Diese Schritte sollten sofort unternommen werden können. Dafür ist es wichtig, nicht um Unterstützung bitten zu müssen. Auch eine Erlaubnis sollte nicht eingeholt werden müssen. Zudem sollte kein zusätzliches Budget erforderlich sein.

Hier die Schritte der 15-%-Lösung im Detail:

  1. Vorstellung des Problems: Identifiziert eine Frage oder ein Problem, für das dein Team nach einer Lösung sucht.
  2. Erklärung des Konzepts: Erkläre den Teilnehmern das Konzept hinter den 15-%-Lösungen.
  3. Persönliche Reflexion: Nun überlegt jedes Teammitglied, was es persönlich ändern oder beeinflussen kann, ohne dass zusätzliche Ressourcen oder Genehmigungen erforderlich sind. Was ist die kleine Veränderung, Maßnahme oder Lösung, die es jetzt sofort vornehmen kann?
  4. Vorstellung der Lösungen: Jedes Mitglied des Teams stellt seine Lösungen in kleinen Gruppen von 2 bis 3 Personen vor. Die anderen Mitglieder der kleinen Gruppe beraten das Teammitglied, indem sie Nachfragen stellen und Ratschläge anbieten.

Nach der Vorstellung der Lösungen kann jedes Mitglied im Team mit der Umsetzung beginnen. Dies haben wir mit der 15-%-Lösung sichergestellt.

In welchen Scrum Events kannst du 15-%-Lösungen nutzen?

  • Sprint Retrospektive: Nutze 15-%-Lösungen in der Sprint Retrospektive, um Verbesserungen zu brainstormen. Die Verwendung von 15-%-Lösungen kann dir in der „Action Item“-Phase der Sprint Retrospektive wertvolle Dienste leisten. Sie bieten dir einen Gegenentwurf zu den weit verbreiteten Verbesserungsmaßnahmen mit den Fragen: „Wer?“ macht „Was?“ bis „Wann?“. 15-%-Lösungen haben sich in der Vergangenheit für mich wirklich als Booster der Teammoral erwiesen. Sie zeigen den Mitgliedern des Teams, dass mit kleinen Aktionen bereits etwas bewirkt werden kann.
  • Daily Scrum: Im Daily Scrum lassen sich 15-%-Lösungen zur Lösung von Problemen nutzen. Trifft das Team auf ein Hindernis? Ermutige die Mitglieder des Teams, zu überdenken, was jeder persönlich tun kann. So können Hindernisse beseitigt werden. Dies unterstützt die Erreichung des Sprint-Ziels.

15-%-Lösungen können besonders motivierend für Teams sein, die online zusammenarbeiten. Durch die Arbeit allein zuhause vor dem Rechner können sich die Mitglieder des Teams machtlos fühlen. Die Verwendung von 15-%-Lösungen gibt ihnen das Gefühl, selbst auch etwas bewegen zu können.

Wo kannst du mehr darüber erfahren?

Ich nutze jetzt seit vielen Jahren in unterschiedlichen Teams und Situationen Liberating Structures.

Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr bin ich davon überzeugt. Sie können endlose Diskussionen abkürzen. Das liegt daran, dass sie jeden im Team von Minute eins an beteiligen.

In diesem Sinne wünsche ich dir viel Spaß beim Ausprobieren!

Ach, wenn du Liberating Structures erst am eigenen Leibe erfahren willst, bevor du sie direkt anwendest – so wie ich damals –,  dann besuche das fortgeschrittene „Professional Scrum Master“-Training. Dort wirst du sie in vielen Situationen kennenlernen. Marc Kaufmann und ich nutzen in diesem Training neun verschiedene Liberating Structures. Wir geben dir zudem weitere Tipps und Kniffe an die Hand, wie du sie auch mühelos in deinem Scrum Team nutzen kannst.

Ach, und vergiss nicht, in die Kommentare zu schreiben, ob du bereits Liberating Structures in Scrum Events nutzt. Wenn ja, dann interessiert mich brennend, welche ...


What did you think about this post?