Vergiss, was du über Produkt-Ziele gehört hast. Ignoriere die Ratschläge, dass Ziele SMART, FAST oder ein OKR sein müssen. Denn Fakt ist:
Diese Methoden bewahren dich nicht vor den typischen Fehlern, die in der Praxis passieren.
Im Laufe der letzten Jahre habe ich mit vielen Scrum Teams gearbeitet. Und obwohl sie alle diese Methoden angewendet haben, haben sie die gleichen Fehler gemacht. Damit du die nicht auch machst, verrate ich dir die vier häufigsten Fehler. Mehr noch: Du bekommst von mir Prinzipien an die Hand, um sie zu vermeiden.
Los geht es:
Fehler 1: Das Produkt-Ziel spiegelt nicht den Erfolg des Teams wider
Anfang des 20. Jahrhunderts, zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft, herrschte in Indien eine Schlangenplage.
Da die britischen Kolonialherren sich vor Schlangen fürchteten, setzten sie ein Kopfgeld auf die Kobras aus. Damit beabsichtigten sie, die Anzahl der Schlangen zu reduzieren. Daraufhin begannen findige Inder, Kobras zu züchten, um sie anschließend zu töten und das Kopfgeld zu kassieren. Als die Masche aufflog, wurde die Prämie aufgehoben. Die Züchter ließen alle Schlangen frei und die Plage wurde noch schlimmer.
Das Ziel, „die Schlangenplage zu bekämpfen“, wurde nicht erreicht.
Denn das eigentliche Ziel geriet in den Hintergrund und die Messung „Anzahl toter Schlangen“ wurde stattdessen zum Ziel. Dieser Fehler ist als Goodharts Gesetz bekannt. Es besagt: „Wenn eine Maßnahme zu einem Ziel wird, hört sie auf, eine gute Maßnahme zu sein.“ Du kannst dieses Phänomen beobachten, wenn etwa die Steigerung der Velocity zum Ziel des Teams wird.
Du vermeidest diesen Fehler, indem du folgendes Prinzip beherzigst:
Das Produkt-Ziel und die Erfolgsmetriken des Teams müssen in Einklang miteinander stehen.
Erfolgsmetriken für Scrum Teams sind ein Fass ohne Boden. Vor kurzem wurde ich dazu von David Symhoven interviewt. Im „Wir müssen reden! Der Podcast für Scrum Master, Agile Coaches und diejenigen, die es werden wollen“, habe ich viele konkrete Metriken erklärt, mit denen du sofort anfangen kannst zu messen!
Fehler 2: Das Produkt-Ziel wird nur einmal im Quartal überprüft
Der Scrum Guide schreibt: „Das Produkt‐Ziel ist das langfristige Ziel für das Scrum Team.“
Ein langfristiges Ziel garantiert nur mehr Unsicherheiten auf dem Weg zum Ziel. Mehr noch: Nicht nur der Weg zum Ziel ist unsicher, sondern das Ziel selbst ist es auch. Das Ziel kann sich als erstrebenswert bewahrheiten, oder als irrelevant. Deshalb lautet die bittere Wahrheit:
Das Produkt-Ziel ist nur eine Annahme.
Das Gute an Annahmen ist: Sie laden zur Überprüfung ein. Und hier schleicht sich ein häufiger Fehler ein: Das Produkt-Ziel wird nur einmal im Quartal überprüft. Auf den ersten Blick klingt dieser Fehler nicht fatal. Ein zweiter Blick offenbart jedoch, dass ein grundlegender Zusammenhang nicht verstanden wurde:
- Größere Unsicherheit –> häufiger überprüfen
- Geringe Unsicherheit –> seltener überprüfen
Die Auswirkungen sind dramatisch. Je größer die Unsicherheit, desto häufiger sollten der Fortschritt und die Sinnhaftigkeit des Ziels überprüft werden. Dass das Unverständnis dieses Zusammenhangs schwerwiegende Auswirkungen hat, zeigt sich darin, dass bei 6 von 10 Scrum Teams die Sprintlänge 2 Wochen beträgt. Du vermeidest diesen Fehler, indem du das Prinzip beherzigst:
Das Produkt-Ziel muss regelmäßig überprüft werden. Als Daumenregel hat sich hier die Sprintlänge bewährt.
Fehler 3: Der Fortschritt bei der Erreichung des Produkt-Ziels wird mittels PowerPoint-Folien belegt
Das wichtigste Fortschrittsmaß eines Scrum Teams lautet: funktionierende Software.
Selbst 20 Jahre nach der Erstellung des Manifests für Agile Softwareentwicklung wird diese Aussage von vielen fehlinterpretiert. In Scrum geht es nicht darum, mehr Features zu liefern. Es geht darum, wirkliche Transparenz über den Fortschritt herzustellen. Und nicht über irgendeinen Fortschritt, sondern über den Fortschritt bei der Erreichung des Produkt-Ziels. Der Scrum Guide hält dies unmissverständlich fest:
„Ein Increment ist ein konkreter Schritt in Richtung des Produkt‐Ziels.“
Status-Updates zum Management, die Begutachtung von Burn-Down-Charts und PowerPoint-Präsentationen über die neuesten Features führen nicht zum gleichen Grad an Transparenz wie das Ausprobieren eines fertigen Inkrements. Diese Fehler sind so weit verbreitet, dass die Warnung davor sogar im Scrum Guide aufgeführt wird:
„Das Sprint Review ist ein Arbeitstermin und das Scrum Team sollte vermeiden, es auf eine Präsentation zu beschränken.“
Du vermeidest diesen Fehler, indem du das Prinzip beherzigst:
Nur die Kombination aus Inkrementen und Produkt-Ziel ermöglicht Aussagen über den Fortschritt.
Fehler 4: Das Erreichen des Produkt-Ziels entscheidet über Erfolg
Ziele zu setzen, ist ein Werkzeug.
Mehr auch nicht! Ein Ziel ist eine Sache, die erreicht wird oder eben nicht. Erreicht ein Scrum Team ein Produkt-Ziel nicht, ist das kein Maßstab für seinen Wert im Unternehmen. Es ist ein Fehler, etwas anderes anzunehmen, denn:
Produkt-Ziele machen Teammitglieder zu Versagern.
Von dem Augenblick an, in dem ein Produkt-Ziel definiert ist, versetzt es jeden im Team in den Zustand des „Versagens“. Dieser Zustand hält so lange an, bis das Ziel erreicht wurde. Im besten Fall spornt das die Teammitglieder an, zusammenzuarbeiten und sich auf die Arbeit im Team zu fokussieren, ohne dabei den Kunden aus den Augen zu verlieren. Im schlimmsten Fall demoralisiert es das ganze Team. Tagtäglich jagen die Teammitglieder einem unerreichbaren Zustand hinterher.
Wie kann das Produkt-Ziel dem Scrum Team eine Richtung weisen, ohne die Teammitglieder auszubrennen?
Indem du dich von traditioneller Zielsetzung verabschiedest. Traditionell sind Ziele etwas Binäres. Ein Ziel wurde erreicht oder eben nicht. Mache nicht den Fehler und begreife Ziele so eindimensional, sondern beherzige das Prinzip:
Ziele sollten zur Entdeckung anregen.
Produkt-Ziele bieten den Hebel für Innovation. Ein Beispiel für ein Produkt-Ziel, das ein Scrum Team anregt, jeden Tag aufs Neue den Wert für die Nutzer des Produkts entdecken zu wollen:
„Validiere, ob eine „Flipped Training“-Lernmethode wünschenswert, praktikabel und durchführbar ist.“
Dieses Ziel stammt von Sabrina Love. Sie ist Product Ownerin im Courseware-Development-Team bei Scrum.org und verantwortet die Neu- und Weiterentwicklung der Professional-Scrum-Trainings.
Wenn du mehr über Ziele erfahren willst, dann empfehle ich dir mein PAL-EBM-Training.
Sinnvolle Produkt-Ziele zu definieren ist schwer.
Kurz gesagt beschreibt das Produkt-Ziel das „Wozu“, zu dessen Zweck das Team all diese Arbeiten unternimmt. Mehr Anleitung liefert der Scrum Guide nicht.
Um erfolgreich Produkt-Ziele zu definieren, lass dich deshalb von diesen Prinzipien leiten:
- Das Produkt-Ziel und die Erfolgsmetriken des Teams müssen miteinander in Einklang stehen.
- Das Produkt-Ziel muss regelmäßig überprüft werden.
- Nur die Kombination aus Inkrementen und Produkt-Ziel ermöglicht Aussagen über den Fortschritt.
- Ziele sollten zur Entdeckung anregen.
Welche Fehler beobachtest du bei der Arbeit mit Produkt-Zielen? Schreibe sie in die Kommentare!